Von Helmut Erwert (aus persönlicher Sicht)
Wenn die wahrheitsträchtige historische Erkenntnis so perfekt ausgefallen wäre, wie die gelungene Wahl des südsteirischen Tagungsortes Bad Radkersburg mit seinem modernen Congresszentrums ZEHNERHAUS! Das durchgehend sonnige Wetter schien zur makellosen Organisation durch die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung zu gehören, die jeden Teilnehmer mit einer Begrüßungsmappe nebst Kurzbiograhie der Referenten, Teilnehmerliste, vollständige abstracts der Vorträge, Ergänzungsliste mit Zusatzinformationen und einen Stadtplan sowie einen Schreibblock mit Kugelschreiber erfreute. Auch die Begrüßung durch Frau Beier-de Haan vom Deutschen Historischen Museum Berlin weckte große Erwartungen. Die Professorin verurteilte eine isolierte Einseitigkeit der Geschichtsschreibung und rief zu Dialogbereitschaft, Multiperspektivität mit transnationalen Ansätzen auf.
Bei dem gedrängten Programm, das äußerste Konzentration von den Zuhörern verlangte, jagte ein Referat das andere. Manche Referenten lasen ihr verschachteltes Wissenschaftsdeutsch vom Blatt, die Simultanübersetzung in oft zerrissener Syntax war nicht immer leicht zu verstehen, und es muss die Frage erlaubt sein, wie – über die “Präsentation des aktuellen Forschungsstandes” hinaus, - die geforderten gemeinsamen Ansätze einer neuen Bewertung der historischen Ereignisse erreicht werden könnten. Wenn die Referenten ihre Themen vom Blatt abhandelten, die in manchen Fällen ohnehin publiziert vorliegen, für eine zusammengefasste Anzahl Referate jeweils nur eine knappe Zeitspanne für Nachfrage und Erörterung zur Verfügung stand, so konnte - über die Kenntnisnahme der vorgetragenen Inhalte hinaus, - wenig diskursiver Fortschritt im Gedankenaustausch erwartet werden. Nicht einmal der als “Podiums-Gespräch” angekündigte “deutsch-serbische Dialog” gedieh zu mehr als zu kurzen Statements.
Dies ließ den Schreiber dieser Zeilen nicht ruhen. Auf schriftlichem Wege möchte er in der Rückschau dem angestrebten ausführlicheren Diskurs zu dienen versuchen. Die “Stiftung” hatte aus organisatorischen Zwängen eine Vielzahl von Experten aus entfernten Ecken zusammenzubringen, die Referate und die Aussprachen in einen vollen Tag und zwei halbe pressen müssen, so dass es verständlich ist, dass die Tagung nicht anders ablaufen musste, doch wäre ernsthaft zu erörtern, ob man nicht in Zukunft dem wichtigen Desiderat eines ausführlicheren Gedankenaustauschs, der zu Konkretisierungen, Überprüfungen, Verdeutlichungen und schöpferischer Kritik führen würde, besser Rechnung tragen sollte.
Schon das erste Referat von Günter Schödl in Sektion I (Deutsche in Jugoslawien nach 1918), das die Aufmerksamkeit auf die langzeitige Genese der Konfliktpotenziale lenkte, von der “Entwicklungslogik südslawischer Staatsbildung”, von der “Unsicherheit im Umgang mit Fremden”, von der “Transformation deutschsprachiger Streusiedlungen in eine nationalistisch definierte deutsche Minderheit in südslawischer Umgebung” sprach, hätte Ansätze genug zu Hinterfragung, Differenzierung und Konkretisierung geboten. Schödls spätere mehrmalige Mahnung, die “fehlende Geschichte von unten” einzubeziehen, traf den Nagel auf den Kopf, aber wo gab es Zeit dazu? Punktuell drang die Forderung da und dort durch, etwa als später der Rudolfsgnader Lagerhäftling und Zeitzeuge Anton Ellmer kurz schildern konnte, wie sehr die abstrakte Abhandlung der Ereignisse auf der wissenschaftlichen Ebene sich von seinem eigenen biografischen Erlebnisgehalt abhebe. Als Zeitzeuge flocht er seine schreckliche Totengräberrolle als Kind im Todeslager Rudolfsgnad ein.
Manches an Konkretisierung lieferte das Referat von Zoran Janjetovic, der die Widerwilligkeit des SHS-Staates gegenüber seinen Minderheiten gut und scharfsichtig herausmeißelte und herausstellte, dass die jugoslawische Regierung nicht begriff, dass ihre restriktive Minderheitenpolitik nicht ausreichend war, “damit die Minderheiten genug Loyalität dem jugoslawischen Staat gegenüber gespürt hätten.”
Zwei Filme lieferten am ersten Abend ebenso Geschichte von unten: der mutige dramatische Filmstreifen von Marko Cvejic etwa, der Einzelschicksale von Menschen donauschwäbischer und serbischer Herkunft beleuchtete, der Film von Thomas Dapper, der die Sicht der zahlreichen Opfer auf beiden Seiten einzufangen suchte. Zum Charakter einer filmischen Darstellung gehört ja, dass sie personalisieren und konkretisieren muss, daher ist es nicht hoch genug einzuschätzen, wenn dieses Medium zur Verbreitung der Erinnerungskultur beiträgt.
Carl Bethke (“Einstellung der Donauschwaben zum Nationalsozialismus”) trug eine differenziertere Sicht der Befindlichkeiten der Volksgruppe in den 1930er Jahren vor, sprach nicht pauschal von “den Donauschwaben”, wenn er die stärkere Hinwendung an das Deutsche Reich skizzierte, nahm die “politischen Eliten” der Volksgruppe ins Visier, wobei auch hier konkretisiert, die jüngere von der älteren unterschieden werden müsste. Die gedrängte Zeit verhinderte solche Differenzierungen, Bethke gebührt Dank allein für den Ansatz dazu.
Eine redliche Geschichtsschreibung muss vor Pauschalierungen auf der Hut sein. Die Geschichtsereignisse sind vielschichtig, die volle wahre Geschichte zeigt sich nur als Kaleidoskop mit Brechungen. Qualifizierende Behauptungen über die deutsche Volkgruppe von 500.000 Menschen in Jugoslawien müssen in einer zeitlich-räumlich-personellen Quantifizierung dargestellt werden, wobei die bedingenden historischen Umstände präzise zu analysieren wären. Die Perspektive der Mitte und die von unten ergibt erst das Gesamtbild, worauf Frau Beier-de Haan zu Beginn der Tagung mit Recht hingewiesen hatte, als sie zu Multiperspektivität aufrief.
Solcher Forderung genügte das Referat von Thomas Casagrande in der Sektion II (Das Dritte Reich, NS-Besatzungspolitik und Holocaust) mit großen Einschränkungen. Das sachlich angekündigte Thema des Referenten (“Die volksdeutsche SS-Division Prinz Eugen und die nationalsozialistische Aufstandsbekämpfung in Jugoslawien 1941-1944”) ließ auf eine überzeugendere Darstellung des Gegenstandes hoffen, als der Referent sie in seinem Buch mit dem suggestiven Titel “Die volksdeutsche SS-Division ‚Prinz Eugen’ - Die Banater Schwaben und die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen” geboten hat, wo die Banater Schwaben in eine Reihe mit NS-Kriegsverbrechen gestellt, in einem Atemzug mit ihnen genannt werden. Gravierende Unterschiede zu den Thesen in seinem Buch waren seinem Vortrag leider nicht zu entnehmen. (Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Casagrande und seinem Buch ist unter dem Menüpunkt “Neuerscheinungen” eingestellt.)
Das unvergleichlich tragische Verschwinden der jüdischen Minderheit in Jugoslawien fand in Milan Koljanins Referat ein notwendiges erörterndes Gedenken. Dabei erstaunte der Umstand, dass es auch einen Antisemitismus in der serbischen Regierung gab, dass die Serben, zu antisemitischen Gefühlen motiviert, der Suggestion unterworfen waren, die Juden seien “das größte serbische Übel”, was der Referent durch Plakate in kyrillischer Schrift veranschaulichte. Dass jüdische Häuser, nach der Verhaftung ihrer Besitzer, von “den Volksdeutschen” geplündert worden seien, kann der entsetzte Schreiber dieser Anmerkungen in dieser Verallgemeinerung aus zahlreichen Recherchen und aus seiner Kindheitserfahrung nicht bestätigen. Das Verschwinden der 60 bis 70 Juden aus seiner Stadt war zeitgleich nicht an sein kindliches Ohr gedrungen. Von der Verhaftung, dem Abtransport hörte das Kind viel später. Zeitzeugen erzählten, dass man unsere bekannten jüdischen Geschäftsleute unter Bewachung mit Kehrbesen eine Gasse kehren sah. Aus den Interviews klang Abscheu und hilfloses Befremden (“Wer schafft so was an? Wie kann man so was machen?”). Viele der Befragten waren Kunden der jüdischen Geschäftsleute gewesen. Dass diese oder andere sich in größerer Zahl an Raubzügen in leer stehenden jüdischen Häusern beteiligten, kann ich nach meiner Erfahrung nur schwer glauben. Eine Frau erzählte voll Verachtung, dass eine ihrer Bekannten sich Geschirr aus einem jüdischen Haushalt besorgt hatte, ob durch Plünderung oder Zuteilung, blieb offen, doch die Erzählerin machte deutlich, dass ihre Bekannte sich damit außerhalb der “anständigen” Gesellschaft befand.
In Kreisen der Jugend – oder war es das Nachbarskind “Freedi”, dessen Vater in Belgrad arbeitete? - wurde später, ohne Zusammenhang mit der örtlichen Deportation der jüdischen Kaufleute, ein Gerücht kolportiert, das von einem geschlossenen Lastwagen sprach, in dem Juden transportiert und “vergast” würden – ohne Angabe des Ortes oder des Landes. Wegen der Schrecklichkeit des Geschehens blieb der Lkw bis heute in meiner Vorstellung, und ich war geschockt, als auf der Tagung ein Foto von einem veritablen solchen Wagen auf der Leinwand erschien. Das Bild stammt aus dem dokumentarischen Fundus des Referenten. War dies der Lastwagen, von dem das Kind gehört hatte?
Michael Portmanns Vortrag, der sich auf seine Dissertation stützte, erwarb sich in Sektion III (Vertreibung, Deportation, Internierung) große Verdienste, da er endlich ein objektives Bild der Internierungen und der Behandlung der donauschwäbischen Bevölkerung in der Vojvodina von 1944-1948 auch aus jugoslawischen Quellen zu zeichnen versuchte. Doch der Referent klagte über die Restriktionen, die einem Forscher in serbischen Archiven begegneten. Akten seien nicht vorhanden oder nicht geordnet oder nicht einsehbar, manchmal auch der Kopierer defekt. Daher stützten sich seine Erhebungen doch vorrangig auf donauschwäbische Dokumentationen. Unumwunden sprach der Referent von Hunger- und Todeslagern, bezifferte die Zahlen der Inhaftierten, nannte die extrem hohen Todesraten.
Der Opferstatus der jugoslawiendeutschen Minderheit ist also durch die eigenen Dokumentationen – Georg Wildmann berichtete darüber – in der Wissenschaft angekommen. Matthias Beer wies in seinem Vortrag auf die Besonderheiten der Behandlung der deutschen Minderheit seit 1944 durch das kommunistische Jugoslawien hin, das ein Netz von Lagern errichtete mit der höchsten Todesrate aller deutschen Volksgruppen. Diese radikale Lösung, diese “ethnische Säuberung” führte er z. T. auf den vormaligen Wunsch der Südoststaaten nach einem homogenen, ethnisch reinen Nationalstaat zurück.
Erschüttert schauten am letzten Tage die Tagungsteilnehmer auf Bilder von zahllosen Totenköpfen und Skeletten aus Ausgrabungen in Slowenien, die Joze Dezman aus Kranji, Leiter der slowenischen Regierungskommmission zur Aufdeckung verborgener Massengräber, auf die Leinwand warf. Man wird Dezman Hochachtung zollen müssen, dass er den toten Opfern der “ethnic and class cleansing”, darunter zahlreiche Deutschslowenen sowie deutsche Kriegsgefangene in den 600 lokalisierten Massengräbern in Slowenien (1.500 in Jugoslawien), endlich die Würde einer humanen Bestattung zukommen lassen will.
Auch die Filme von Cvejic und Dapper hatten die Leiden und das Sterben der deutschen Minderheit in Jugoslawien in Erinnerung gerufen. Die mediale Vermittlung konkretisierter Geschichte war eindrucksvoll und die Regisseure sollten jede Unterstützung bekommen, solche Filme zu schaffen, doch muss die Präsentation gut durchdacht sein. Bei Dappers Film, der noch nicht fertig gestaltet ist, wird man sich fragen, ob man Bildsequenzen ohne Hintergrundinformationen nacheinander abrollen lassen kann. Sein Streifen erzählt z. B. von einem serbischen Schulleiter, der von deutschem Militär erschossen wurde. Man sieht seinen Grabstein, man erfährt, dass er eine Pistole in der Asche seines Küchenherdes versteckt hatte. Eine anschließende Einstellung berichtet vom Hungertod deutscher Lagerfrauen, von Erschießungen deutscher Lagerinsassen. Kann man dem uneingeweihten Zuschauer die Frage überlassen, wo denn diese Leute ihre Pistole versteckt hatten, wo denn ihr Grabstein zu finden ist? Sie hatten vielleicht nur um Lebensmittel gebettelt, liegen namenlos unter Gras und Gestrüpp im Massengrab.
Der Hinweis von Stefan Barth zum Schluss der Tagung zielte auf die Gefahr medialer Manipulation hin, indem er auf das Ungleichgewicht in der visuellen Beeinflussung der Zuschauer bei einer Ausstellung hinwies, wo in fotografischer Darstellung überlebensgroß die von Deutschen minutiös dokumentierte Erschießung serbischer Opfer (in Pantschewo) gezeigt wird, wobei die bildliche Darstellung der tausendfachen Misshandlungen und Erschießungen deutscher Männer und Frauen, der tausendfache Hungertod von Lagerinsassen – aus Mangel an Bildmaterial – unterbleibt. Dies führe zu einer verzerrten Wahrnehmung der geschichtlichen Ereignisse.
Eine anschauliche Darstellung in Worten lieferte der erwähnte Beitrag von Ellmer, der die grauenhaften Zustände im Lager Rudolfsgnad schilderte, wo sie als Kinder jeden Morgen die gefrorenen Toten wie Holzbretter an die Häuserwände stellten, damit der Leichensammler sie auf seinen Totenkarren warf. Ellmer brachte “Geschichte von unten” ein, beharrte trotz seiner Traumata darauf, dass es keine Pauschalisierung und Generalisierung geben dürfe. Nicht “das serbische Volk” habe Schuld an seinen kindlichen Qualen gehabt, sondern individuell zu benennende Einzeltäter.
Eine überpersonale, wissenschaftliche Sicht der Genese des Verschwindens der deutschen Minderheit in Jugoslawien, die u. a. Schödl mit Recht forderte, kommt in der Literatur, nicht selten auch in Gesprächen, immer noch häufig genug suggestiv und linear daher: Folter, Tortur, Erschießungen, das schreckliche massenhafte Sterben von Frauen, Kindern und Greisen in den Lagern der drei Nachkriegsjahre werden mit der vorhergehenden – oft pauschal und undifferenziert dargestellten - nationalen Identifizierung der deutschen Volksgruppe mit dem Reich und mit ihrer Eingliederung in die Division “Prinz Eugen” verrechnet und abgeglichen. Sicherlich wird der in seiner Perspektive überlegene Historiker geschichtliche Phänomene in größere Zusammenhänge stellen müssen, doch bleibt es unbestritten, dass es häufig oder oft oder meist ganz verschiedene Individuen mit beschränkter Einsicht sind, die Ursachen anstoßen, wiederum andere, die die Folgen erleiden, und noch mal andere, die, aus keineswegs lückenlosem Wissen, ein geschichtliches Fazit ziehen dürfen.
2012-05-21