Diese Rezension von Helmut Erwert über das Buch von Marie-Janine Calic “Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert” erschien in den “Spiegelungen” (Heft 1, Jahrgang 2011) auf den Seiten 86-89.
Bei den “Spiegelungen” (bis 2006 “Südostdeutsche Vierteljahresblätter”) handelt es sich um eine Kulturzeitschrift, die vom Verlag des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e.V. an der Ludwig-Maximilians-Universität München (IKGS) herausgegeben wird (bis 2002 Verlag des Südostdeutschen Kulturwerks). Mehr über dieses Institut unter www.ikgs.de.
Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert.
München: C. H. Beck 2010. 416 S. € 26,95.
Zwei oder drei Generationen von Menschen in der Europäischen Union haben volle 65 Jahre lang niemals feindlichen Kanonendonner oder zerstörerischen, tödlichen Bombenhagel erlebt. Sie kennen den Krieg und sein Elend nur mehr vom Fernsehschirm, von Bildern aus dem Irak, aus Afghanistan, oder erinnern sich an jene unsäglich blutigen Konflikte am Rande des Kontinents, die es – nach allem, was die Europäer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgemacht hatten – eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen. Bilder tauchen auf – von weinenden Frauen, zerschossenen Häusern in Bosnien, von Pferdewagenkolonnen flüchtender Menschen im Kosovo! Jugoslawien, das Geburtsland Zehntausender Gastarbeiter in Deutschland, Jugoslawien, das Urlaubsland von Millionen Europäern, die sich an seinen Stränden ihre Sommerbräune holten, war in blutigen Fehden versunken.
In einem 400-Seiten Buch legt nun die Münchner Professorin Marie-Janine Calic die erste Gesamtdarstellung der Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart in deutscher Sprache vor, eingebettet in die Beck’sche Reihe “Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert”. Sechs Großkapitel widmet sie den Zeiten vor, während und nach der zweimaligen staatlichen Einheit Jugoslawiens, bietet einen Anhang mit wissenschaftlichem Apparat, wertvollen Übersichten, Tabellen, Register und Kartenmaterial. Den deutschen Leser wird die Darstellung des Zweiten Weltkriegs, des “sozialistischen Jugoslawien” und dessen Auflösung besonders interessieren oder auch der postkommunistische Zustand des südöstlichen Randes der europäischen Landmasse, der bis heute einen “weißen Fleck” in der politischen Landkarte Europas markiert. Wenig verwunderlich also, dass sich Heiko Flottau in seiner Rezension des Buches in der Süddeutschen Zeitung fast ausschließlich auf die letzten Teile der Darstellung stürzt, die neuralgischen Punkte des Tito- und Nach-Tito-Regimes rekapituliert sowie die Gründe für die Verbrechen der ethnischen Säuberungen sucht.
Das zentrale Interesse der Autorin gilt dem Gesamtstaat “Jugoslawien” und seinen staatstragenden slawischen Teilnationen, was den Historiker Lothar Höbelt veranlasst, von einer “Jugostalgie” zu sprechen. Der Eindruck ist nicht ganz von der Hand zu weisen, doch wird man der in der Balkanproblematik engagierten Wissenschaftlerin gerne zugestehen, Sympathie für den weiten jugoslawischen Staatsrahmen zu hegen, der Stabilität, Frieden und politisches Gewicht für die Balkanländer garantieren konnte. Dass der zweimalige Versuch des übernationalen Zusammenschlusses in Grausamkeit endete, wird nirgends im Buch beschönigt oder geleugnet, ist aber auch nicht der Staatsidee anzulasten, sondern denen, die sie nicht mit Augenmaß und ausgleichender Gerechtigkeit ausfüllen konnten.
Aufwühlend und fesselnd ist die Lektüre allemal. Bei der Fülle des Materials, der Vielfalt brillant formulierter Passagen ist es freilich nicht immer leicht, dem Verlauf eines analytischen Fadens zu folgen, ein klares historisches Urteil herauszuschälen, zumal die Autorin sich nicht selten auf schmalem Grenzterrain zwischen verhüllter Anklage und suggestiver Verteidigung, erklärendem Verständnis und entschiedener Ablehnung bewegt. Den Grund des Scheiterns der “Erfindung einer jugoslawischen Nation” sieht sie nicht in der oft behaupteten Rückständigkeit oder dem angeblichen Hasspotenzial der südslawischen Völker, sondern im Mangel an “gesellschaftlichen Voraussetzungen” in Konfession und Sprache. Der mangelnde Konsens sei Ausfluss “lang andauernder, unterschiedlicher Fremdherrschaften” (S. 333) gewesen. “Vielgestalt, Ungleichzeitigkeit und nationalideologische Hybridität mögen erklären, warum sich […] weder vor noch nach Gründung Jugoslawiens ein integrales südslawisches Nationsverständnis konsolidierte […]”. (S. 333 f.)
Die Berichte und Zitate über allseitige Gräuel des Ustascha-Regimes, der Tschetniks, des Tito-Regimes, die ehrlich und ungeschminkt benannt werden, erfüllen den Leser mit Schaudern, lassen eine Genese des Schreckens vom Zweiten Weltkrieg bis zum “Nachfolgekrieg” vermuten, den auch die ständig einbezogenen Parallelen der jugoslawischen Geschichte mit den europäischen Entwicklungen (“[…] auch der Balkan, im Guten wie im Schlechten, [ist] auf das Engste mit den europäischen Zeitläuften verflochten”. – S. 11) nicht ganz erklären. Schuldzuweisungen an bestimmte Ethnien vermeidet die Autorin, kleidet sie häufig in Verallgemeinerungen oder Passivkonstruktionen, die irgendwie alle Seiten inkludieren (“Warum aber implodierte Jugoslawien mit kriegerischer Gewalt […]? Zum einen wurden sie [die Konflikte] durch machtpolitische und sozialökonomische Gegensätze angetrieben, […] Zum anderen […] durch eine stets aufs Neue aktualisierbare und interpretierbare, blutige Konfliktgeschichte dauerhaft unterfüttert, […]”. (S. 342–343) Wenn von konfliktiver Ursächlichkeit die Rede ist, wird sie in schwebende Abstraktion aufgelöst: “Während die abtrünnigen Republiken und Provinzen in der Unabhängigkeit eine alternativlose Notwendigkeit erkannten, mussten die Serben im Staatszerfall eine Bedrohung ihrer nationalen Kernprioritäten erblicken.” (S. 343) Letztlich verankert Calic den Ursprung allen Übels in Entscheidungen und Befehlen, die “von Menschen” ausgingen: “Die viel zitierte Balkankultur spielte im Schlussakt des jugoslawischen Dramas […] nur eine Nebenrolle. Gewaltverherrlichende Traditionen, blutrünstige Volksepen, Waffenkult und patriarchalische Gewohnheiten bildeten eine Projektionsfläche für Kommunikationsstrategien und Handlungsweisen im Krieg, erklären jedoch nicht seine tieferen Ursachen.” Der “Fundus aus Geschichte, Kultur und Religion” habe die Menschen zwar mobilisiert, Autoritäten legitimiert, aber “keinen Automatismus” begründet, “in jedem Moment der historischen Entwicklung gab es für jeden Menschen individuelle Entscheidungsspielräume”. (S. 343–344) Das klingt sehr einsichtig, doch erklärt diese Feststellung, warum so viele menschliche Entscheidungsträger eine so eklatante Brutalität an den Tag legten, wie sie in den Protokollen des “Tribunals für das frühere Jugoslawien” nachzulesen sind?
Calic ist sich des “fast uferlosen und noch längst nicht erschöpfend erschlossenen Untersuchungsgegenstandes” bewusst, “insbesondere was die Zeit nach 1945 anbelangt”, verspricht, ihre Aufgabe “ohne Vorurteile” zu erledigen, wirbt um Verständnis, dass “kein Narrativ ohne Verkürzungen und Verallgemeinerungen” auskommt, dass sie sich bei der Weite des Themas häufig auf Sekundärliteratur stützen muss. Hierbei schätzt sie sich glücklich, dass “die Jugoslawen zu allen Zeiten selber viel publiziert” hätten. (Alle Zitate auf S. 14.) In der Tat, die Verfügbarkeit, die Anzahl, der freie Zugang zu vorurteilsfreien Informationsquellen sind entscheidende Kriterien für die Wissenschaftlichkeit einer historischen Darstellung, doch die lapidare Freude der Professorin über jugoslawische Publikationen sollte diskutiert werden, wenn man den Umstand ins Auge fasst, dass es 35 Jahre lang eine Fülle tendenziöser jugoslawisch-kommunistischer Tito-Hofgeschichtsschreibung gegeben hat, die bis heute ihre Schatten auf die Forschung wirft, indem sie – in Ermangelung anderer Quellen und Darstellungen – auch von seriösen deutschen Historikern unkritisch benutzt worden sind. Der Zugang zu Archiven in Serbien und anderswo im ehemals jugoslawischen Raum ist darüber hinaus bis heute erschwert, und ihre Bestände sind oft äußerst lückenhaft und ungeordnet.
Das zentrale Interesse der Autorin an der Erforschung des Einheitsstaats Jugoslawien und seiner staatstragenden slawischen Teilvölker und -staaten drängt die Erörterung detaillierter Befindlichkeiten der jugoslawischen Regionen und Minoritäten notwendigerweise an den Rand der Wahrnehmung. Die Wissenschaftlerin mit dem Forschungsschwerpunkt “ethnische Minderheiten auf dem Balkan” marginalisiert die Erörterung des Schicksals der deutschen Minderheit, der größten im Jugoslawien vor 1945, verkürzt und verstreut die Beschäftigung mit dieser halben Million Menschen auf insgesamt eineinhalb oder zwei Seiten, wogegen ihre zahlenmäßige Präsenz gut den fünf- oder sechsfachen Raum hätte beanspruchen dürfen. So entstehen notgedrungen viele schiefe Bilder, die diese Bevölkerungsgruppe und ihr Lebensumfeld in einem falschen Licht zeigen. Nicht nur, dass die für Jugoslawien angegebene hohe Analphabetenrate auf die einst habsburgisch beherrschte Vojvodina mit ihrem großen deutschen Bevölkerungsanteil überhaupt nicht zutrifft. Auch wenn für die Zeit nach 1918 erwähnt wird, dass der jugoslawische Staat auf Minderheitenschutzverträge verpflichtet wurde, die “den Minoritäten Nichtdiskriminierung, Religions- und Organisationsfreiheit sowie das Recht auf Grundschulunterricht in der Muttersprache zusicherten” (S. 84), so verschweigt diese Verkürzung, dass diese Rechte nie in die jugoslawische Verfassung aufgenommen wurden, es z. B. der deutschen Volksgruppe verwehrt geblieben war, auf eigene Kosten private Schulen mit effizientem Muttersprachenunterricht zu betreiben – eine Kulturautonomie, die den Südslawen im Habsburgerreich stets gewährt worden war.
Die Kürze der Darstellung hat es offensichtlich auch nicht erlaubt, “den Grundsätzen guten wissenschaftlichen Arbeitens folgend […] verschiedene Perspektiven gegeneinander abzuwägen”. (S. 15) Nur so ist es zu verstehen, dass das Buch in den spärlichen Passagen über das Schicksal der deutschen Minderheit für die Jahre 1945–1948 eine haarsträubende Falschbehauptung transportiert: “Im Juni 1945 beschloss die jugoslawische Regierung […], ‚dass alle Deutschen […] nach Deutschland ausgesiedelt werden sollen’. Zehntausende emigrierten daraufhin nach Deutschland und nach Österreich.” (S. 179) Wie gerne wären “Zehntausende” von ihnen in den Jahren 1945–1948 aus den Arbeits- und Hungerlagern emigriert, hätten die tausendfältigen Leiden beendet, wären ihrem grauenhaften Tod entkommen, der in den jugoslawischen Internierungslagern 1945–1948 auf sie wartete! Leider jedoch durfte kein Einziger aus dieser Volksgruppe emigrieren. Keiner der Lagerkommandanten, keiner aus der kommunistisch-sozialistischen Führungsriege in den 35 Jahren Tito-Jugoslawien und danach ist wegen Menschenrechtsverbrechen vor Gericht gebracht worden!
Hier ist der Historikerin die karge Auswahl der Sekundärliteratur zur Falle geworden. Hätte sie doch aktuelle Studien gelesen. Die Dissertation von Michael Portmann etwa (Die kommunistische Revolution in der Vojvodina 1944–1952. Wien 2008), der von “Arbeits- und Hungerlagern”, von “Todeslagern” für die deutsche Bevölkerung spricht, oder den Aufsatz von Zoran Janjetović (in: Daheim an der Donau. Zusammenleben von Deutschen und Serben in der Vojvodina. Novi Sad/Ulm 2009, S. 218–223), der die Internierungen “Konzentrationslager für Schwaben” nennt, wo “bis Mitte 1945 praktisch die gesamte noch freie deutsche Bevölkerung” hinter Schloss und Riegel gehalten wurde.
In diesem viel beachteten Buch dürfte den Lesern in Deutschland eine solch tendenziöse, ungerechte Darstellung des Schicksals der jugoslawiendeutschen Minderheit nicht angedient werden. Die Leugnung der Leiden Zehntausender Frauen, Kinder und alter Menschen, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu Tode kamen, tut den Opfern bitteres Unrecht, beleidigt die überlebenden Zeitzeugen, verwirrt die Nachkommen, ist ein Schlag ins Gesicht aller Wahrheitssuchenden auch in der heute serbischen Vojvodina, wo inzwischen Gedenkstätten auf Lager-Massengräbern inmitten wild wuchernder Äcker entstehen und Jahr für Jahr versöhnliche Trauerfeiern von verschiedenkonfessionellen Geistlichen abgehalten werden.
Keinem der bisherigen Rezensenten des Jugoslawienbuches ist es übrigens aufgefallen, dass das historische Schicksal der jugoslawischen deutschsprachigen Minderheit in dieser Publikation widersprüchlich bzw. falsch dargestellt wird. Wenn solche unwahren Behauptungen unwidersprochen hingenommen werden, offenbart dies nicht eine höchst bedauernswerte Desinformation und eklatante Defizite im Wahrheitsbedürfnis?
Helmut Erwert
Siehe auch: Kritik an der Münchner Professorin Marie-Janine Calic
2011-05-03