Kritik an der Münchner Professorin Marie-Janine Calic

Zutiefst in ihren Gefühlen verletzt wurden donauschwäbische Landsleute durch eine Veröffentlichung der Wissenschaftlerin Marie-Janine Calic. Die Professorin für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München widmet dem grausamen Schicksal der Donauschwaben in Jugoslawien in ihrem 344 Seiten umfassenden Standardwerk “Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert” (München 2010) gerade mal eine halbe Seite. Dies allein würde die Kritik jedoch nicht rechtfertigen. Es waren vielmehr die beiden folgenden Sätze, die für Aufregung sorgten:

“Im Juni 1945 beschloss die jugoslawische Regierung jedoch, ‘dass alle Deutschen … nach Deutschland ausgesiedelt werden sollen’. Zehntausende emigrierten daraufhin nach Deutschland und nach Österreich.” (S.179)

Was zwischen 1944 und 1948 wirklich mit den Deutschen in Jugoslawien geschah – von Emigration konnten die Donauschwaben nur träumen -, hat die Donauschwäbische Kulturstiftung auf 4000 Seiten im vierbändigen “Leidensweg der Deutschen im kommunistischen Jugoslawien” publiziert (siehe Menüpunkt “Publikationen”). In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) entwickelte sich nach einer Rezension von Professor Lothar Höbelt (3. Januar 2011) über mehrere Wochen eine lebhafte Diskussion auf der Leserbriefseite. Eine am 21. Januar 2011 von Monika Geier veröffentlichte Zuschrift soll an dieser Stelle – mit ausdrücklicher Genehmigung der Verfasserin – zitiert werden:

Wenn Prof. Langewiesche offenbar allen Ernstes Marie-Janine Calic für eine “international vielgefragte deutsche Balkan-Expertin” hält, macht das viele Donauschwaben fassungslos, weil sich die deutschen Balkan-Experten dann offenkundig in einem desaströsen Zustand befinden. Als Tochter von Donauschwaben aus Rudolfsgnad (Banat/Serbien), dem Ort mit dem größten für Deutsche bis März 1948 existierenden Todeslager mit bis zu 20 500 Gefangenen und insgesamt rund 11 000 Toten (Alte, Kranke, Kinder und Frauen mit Kleinkindern), bin ich geschockt, in welch unwissenschaftlicher Weise diese Verbrechen der Tito-Partisanen verschleiert werden. Die (bewusste?) Irreführung erreicht ihren Höhepunkt, wenn Calic auf Seite 179 – sie widmet den Verbrechen an den Deutschen mit 64 000 Ziviltoten eine halbe Seite ihrer insgesamt 344 Seiten – schreibt: “Im Juni 1945 beschloss die jugoslawische Regierung jedoch, dass alle Deutschen … nach Deutschland ausgesiedelt werden sollen. Zehntausende emigrierten daraufhin nach Deutschland und nach Österreich.” Die Realität sah so aus: Vor Hunger in der umliegenden Gegend bettelnde Kinder wurden nach gescheiterten Fluchtversuchen misshandelt und teilweise erschossen (Beispiele sind mir bekannt), die Lager bis März 1948 betrieben. Danach folgte für viele eine dreijährige Zwangsarbeit, ehe im Laufe der 50er Jahre nach vielen weiteren Hindernissen endlich die Ausreise genehmigt wurde, während tausende elternlose Kinder in staatliche Kinderheime eingewiesen wurden und zu einem beträchtlichen Teil für immer in Jugoslawien verblieben. Als Angehörige einer Opfer-Familie, die mehrere Lager-Tote beklagt, erfüllt mich blankes Entsetzen wie hier Geschichtsschreibung betrieben wird.

Nicht veröffentlicht wurde eine Zuschrift von Rosa Speidel (eine Reaktion auf einen Leserbrief von Prof. Gerhard Seewann, Fünfkirchen/Pecs), die aber – ebenfalls mit ausdrücklicher Genehmigung der Verfasserin – dennoch angeführt werden soll:

Erst die Grausamkeiten und Greueltaten durch das “Dritte Reich” und einen Teil der Volksdeutschen im Zweiten Weltkrieg, so Professor Seewann, hätten die Deutschen zu einer problematischen Minderheit in Jugoslawien gemacht. Diese Sichtweise ist allerdings eine unvollständige. Michael Portmann hält in seiner Dissertation (Die kommunistische Revolution in der Vojvodina 1944 – 1952, Wien 2008) fest, dass es den Kommunisten “schon seit Beginn des Bürgerkrieges im Sommer 1941 primär um die Durchführung einer sozialistischen Revolution” ging (S. 19). Bei einer solchen Revolution mussten die wohlhabenden Deutschen aber automatisch ins Visier der Kommunisten geraten. So erklärte denn auch Historiker Götz Aly im September letzten Jahres in Berlin in seinem Vortrag “Ethnische Politik im 20. Jahrhundert: Eine Folge des Strebens nach nationaler und sozialer Gleichheit”, dass Tito schon während des Krieges “als hauptsächliche Verfügungsmasse für die kommunistische Landreform” den Landbesitz der deutschen Minderheit im Banat – immerhin laut Aly 637 000 Hektar – eingeplant hatte. Deshalb ist die Schlussfolgerung von Marie-Janine Calic, Hitlers Herrschaft hätte die jahrhundertealte Präsenz der Donauschwaben in der Region auf brutale Weise beendet (S.179), auf Grund ihrer Monokausalität unwissenschaftlich. Sie verschweigt eben die realpolitischen Interessen Titos und nimmt den kommunistischen Diktator damit aus der Verantwortung für die Verbrechen an den Donauschwaben. Niemand zwang Titos Schergen im Jahre 1946 als Vergeltung für eine Lagerflucht einer anderen Person eine unschuldige junge Mutter zu erschießen oder vor Hunger bettelnde Kinder nach gescheiterten Fluchtversuchen schwer zu misshandeln.

Jene unwissenschaftliche monokausale Schlussfolgerung der Professorin überrascht umso mehr, wenn man die Schlussbetrachtung von Calic im Hinblick auf den Jugoslawien-Krieg in den 1990er Jahren liest. Sie lehnt dort nämlich einen Automatismus ab, ehe sie die Begründung nachschiebt:

“Denn buchstäblich in jedem Moment der historischen Entwicklung gab es für jeden Menschen individuelle Entscheidungsspielräume. Niemand kann sich auf Anthropologie, Struktur, Kultur oder die Eigendynamik der Gewalt herausreden, um von seiner Verantwortung für Krieg und Massenverbrechen abzulenken. Nichts war unumkehrbar, nichts unvermeidlich.” (S.344)

Eine ausführliche Rezension ist unter dem Menüpunkt “Neuerscheinungen” eingestellt: Rezension: Calic “Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert

2011-05-03