Eine Banatreise am Tage der Nobelpreiszuerkennung an Herta Müller

Landschaften der Heimatlosigkeit - Eine essayistische Reportage

von Helmut Erwert

Der folgende Essay ist als Wochenendbeilage der Samstagsausgabe der Zeitungsgruppe “Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung” als Nr. 293 am 19. 12. 2009 erschienen.
Der Autor, in Weißkirchen/Bela Crkva/Westbanat geboren, heute in Bayern beheimatet, ist durch literaturkundliche Beiträge zur donauschwäbischen Literatur sowie eigene literarische Texte (in der südostdeutschen Kulturzeitschrift “Spiegelungen”, im Buch “Die Donauschwaben”, etc.) hervorgetreten, hat sich als Mitverfasser von Lehrbüchern für Deutsch in der Sekundarstufe sowie als Verfasser umfangreicher historischer Sachbücher zur Region Straubing-Bogen (Feuersturm, Zigarettenwährung und Demokratie; Niederbayerische Erfolgsgeschichten) hervorgetan.

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Als wir über die rumänische Landstraße schaukelten, nach aufwühlenden Tagen im benachbarten serbischen Banat, hatten wir den Kopf voller Erlebnisse. Niemand im Reisebus dachte an den Nobelpreis für Literatur.
Schnurgerade führte eine lange Dorfstraße durch eine Siedlung. Typisch für die schachbrettförmigen pannonischen Orte der Tiefebene. Der Ort Deta hinter uns, Biled, Lovrin und andere noch vor uns, - Geburtstätten von Autoren einer banatdeutschen Literatur, die hier keiner kennt: Richard Wagner, Johann Lippet, Herta Müller. Letztere stamme aus Nitzkydorf, behauptete einer in der Reisegesellschaft und zeigt nach draußen: “Dort hinten, irgendwo am Horizont.”
Die Weite der Tiefebene stößt hier überall an flache, ferne Horizonte, über die sich unendlich der Himmel wölbt. Das Übermächtige der Endlosigkeit, das göttlich Grandiose, das Achtung gebietend Überdimensionale erschreckt mich. “Die Landschaft, da hatte ich immer den Eindruck, dass sie mich erschlägt”, sagt Herta Müller über diese ihre Heimat.
In der Ferne ducken sich Häuser um einen Kirchturm; heben sich kaum aus der flachen Unendlichkeit. “Aus den Feldern sieht man das Dorf als Häuserherde … weiden … . Alles scheint nahe, und wenn man drauf zugeht, kommt man nicht mehr hin. Ich habe diese Entfernungen nie verstanden. Immer war ich hinter den Wegen, alles lief vor mir her.” (Herta Müller, in “Niederungen”)

Bedeutendes Signal

Während wir uns Temeschwar näherten, müssen in Stockholm einige Juroren der Schwedischen Akademie die Köpfe sich heiß geredet haben. Auch ich redete, sprach mit Engelszungen, verteidigte den Vorschlag, in der am Horizont auftauchenden großen Banater Stadt einen Halt einzulegen. Rühmte den Ort als Zentrum der Habsburgischen Besiedlung dieser südosteuropäischen Provinz, die unseren Vorfahren eine Zukunft eröffnete. Pries die Architektur des barocken Domes, - der Mutter der Kirchen im Banat, von denen wir einige besucht hatten, - verfallene oder leidlich gut erhaltene. Erwähnte das deutsche Gymnasium am Ort, wo ein Literaturkreis existierte, der deutschsprachige Schriftsteller hervorgebracht habe: Herta Müller, zum Beispiel.
Im Bus fand sich eine Mehrheit für einen Halt in dieser Stadt, und zum gleichen Zeitpunkt in Stockholm eine Mehrheit für die Schriftstellerin aus dieser Stadt, und für ihre Themen. Welch eine Koinzidenz von Ereignissen!
Kaum eine knappe Stunde war es her, dass wir vor der rumänischen Grenze, am Ortsende einer serbischen Kreisstadt, an einer verwilderten Schinderwiese vorbeigekommen waren – Ruhestätte von Hunderten von Toten – ohne Kreuz, ohne Gedenkstein. Kaum einer hier kennt die Hekatomben menschlicher Opfern der frühen Tito-Zeit, die hier, weil sie der Hungerengel nicht aus seinen Fängen ließ, zwischen verscharrten Tierskeletten ruhen.
Wann, bitte, - in dieser abgedrifteten europäischen Provinz, früher einst die Kornkammer Mitteleuropas, - wird jemand sich erheben, die Sprachlosigkeit durchbrechen, die wie ein Schimmelpilz auf den Herzen liegt?
Die Stadtverordneten in Vrsac/Werschetz wissen davon, fürchten, es könnte Leidvolles aufgewühlt, Friedloses in die Erinnerung zurückkehren.

Gegen das Vertuschen

Nichts da, erschallt nun just in dieser Stunde - auch wenn wir’s noch nicht wussten, - die Stimme einer gerade gekürten Nobelpreisträgerin. Einer Monomanin des Schmerzes. Das Machtwort der Schwedischen Akademie hat ihre aufwühlenden Texte gerade beglaubigt, und der Widerhall in der deutschen Presse ist plötzlich gewaltig: “Dieser Nobelpreis ist ein bedeutendes Signal, dass die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit existentiell wichtig und noch lange nicht abgeschlossen ist. Er ist Belohnung für eine unbeugsam-couragierte literarische Arbeit und Ermutigung für alle anderen, die einen ähnlichen Weg beschreiten.” Also Hoffnung für alle, auch für uns, die wir Texte im Kopf und in der Schublade halten!
Die Nachricht von der Literaturnobelpreiszuerkennung trifft alle wie ein Blitzschlag. Uns, die wir an den gleichen quälenden Themen hängen, schlägt die Namensnennung der hier Geborenen auf die eigene Kindheit und Jugend durch: Tua res agitur! Deine Sache wird hier verhandelt!
“Kein Leser wird mehr glauben”, schreibt das Magazin “Der Spiegel” gleich nach der Nobelpreiserwählung, “Vergangenheit und Leiden seien bewältigbar, abtrauerbar, zähmbar.” Für uns, die Letzten der Erlebnisgeneration, hat sich diese Hypothek in der Tat als untilgbar erwiesen. “Wir mussten Baumstämme schleppen”, erzählt meine Busnachbarin, die als 18-Jährige im Schacht Stal bei Almaznaya schuftete, “bei minus 20 Grad. Solange Schnee war, brauchten wir sie nicht auf der Schulter zu tragen. Am schlimmsten aber war der Hunger.” “In der Hautundknochenzeit”, sagt Herta Müllers Ich-Erzähler in dem Buch “Atemschaukel”, “hatte ich nichts mehr im Hirn außer dem ewig sirrenden Leierkasten … : Kälte schneidet, Hunger betrügt.”
Jedem im Reisebus ist das Hungern, auch das Verhungern gegenwärtig. Einige haben die “Hungerlager” Jarek, Molidorf, Gakowa oder Kruschiwl hinter sich gebracht.
“Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. … Ich weiß nicht mehr, ob die Patrouille … das Wort LAGER ausgesprochen hat. …. In der Halle drängten sich 300 Menschen. … Es wurde mit aufgerissenen Augen leise und viel gesprochen und mit zugedrückten Augen leise und viel geweint.” (Herta Müller in “Atemschaukel”.)
Vor zwei Tagen noch standen wir vor dem fußballfeldgroßen Massengrab von Rudolfsgnad/Knicanin, wo Tausende unter der Erde liegen, die der Hunger weggerafft hat. Ich wollte meinen Großeltern nahe kommen, zum ersten Mal, nach über 60 Jahren; schritt die weite Fläche ab. Unter mir, irgendwo, mussten ihre Gebeine ruhen. Ihre Leichenbündel waren hier in den Graben geworfen worden.
Was hatten meine lieben Alten im entlegenen schwäbischen Dorf des Banat verbrochen, dass sie die Patrouille holte? Der Großvater, besorgt um seine Bienen, sein Pfefferminzfeld, seine Tischlerei, war immer voller Kummer. Die Großmutter, in seinem tiefen Schatten, - das kleine, zerbrechliche Persönchen unter dem schweren Dach ihres schwäbischen Kopftuchs, - wirkte stets bedrückt und verschüchtert. Kein Wunder, dass sie das Hungerlager nicht länger als zwei Monate überstand.

Globale Aufmerksamkeit für einen Krähwinkel

Nun zeichnet “eine Autorin, die sich gegen das Vergessen stemmt, gegen diesen Furor des Vertuschens”, die Bilder von Hunger und Tod in die Köpfe einer globalen Leserschaft. Es gelingt die weltweite Evokation der Schmerzen, die die Landsleute durchlitten: in Siebenbürgen, im Banat, und anderswo im Südosten. Dieser Nobelpreis ist ein Bekenntnis zur “zerstörten Diasporakultur und ihrer wortmächtigsten Bewahrerin.” Mehr noch: “Auch wenn die Thematik größtenteils osteuropäisch ist, hebt Herta Müller dies alles auf die existentielle Ebene und macht es damit weltliterarisch relevant, ” so Gerhardt Csejka in der FAZ. Thomas Steinfeld findet ähnliche Worte: “Herta Müllers Werke sind ganz einer Region verbunden, dem Banat, einer deutschsprachigen Enklave in Rumänien, … . Diese Konzentration auf etwas scheinbar Begrenztes bildet hier die Voraussetzung eines Werks, das spätestens jetzt, mit dem Nobelpreis, tatsächlich Weltliteratur wird.”
Eine Banater Schriftstellerin und unser Banat – Weltliteratur? Wir pannonische Stadtkinder haben das Banater Dorf erlebt, in den Ferien: “Wenn der Regen … im Sommer … die Erde aufweicht, sieht man, wie tief die Wege sind und wie ausgewaschen die Erde ist. Die Kühe tragen dann große unförmige Schuhe aus Schlamm durch die Häusertore. Man riecht das Gras in ihren Bäuchen. … Die Kühe kauen abwesend, und ihre Augen sind trunken von so viel Weide. Jeden Abend kommen sie mit diesen trunkenen Augen ins Dorf zurück.” (Herta Müller, in “Niederungen”.)
Dieses Dorf ist nun aber an vielen Stellen anders geworden als das unsere: Die täglich erfahrbare Grobschlächtigkeit, wenn Katzen ertränkt, Spatzenjungen aus dem Nest geworfen werden, bedrückt die Ich-Erzählerin. Gegen die geistig-moralische Kälte des Sozialismus grenzen sich ihre Dörfler ab durch eine muffige Identität, indem sie sich an einer engstirnigen Deutschtümelei wärmen: “Die Frösche quakten aus allen Lebenden und Toten dieses Dorfes.”
Heftig umstrittensten bei ihren Banater Lesern blieb die Szene mit dem “schwäbischen Bad”: In holzschnittartiger, kantiger Sprache schildert Herta Müllers Text das wöchentliche Baderitual einer Dreigenerationensippe: Kind, Eltern und Großeltern steigen in das gleiche Badewasser. “Die Großmutter schaut in die Badewanne. Die Großmutter sieht den Großvater nicht. Das Badewasser schwappt über den schwarzen Rand der Badewanne. Der Großvater muss in der Badewanne sein, denkt die Großmutter. … Der Großvater lässt das Badewasser aus der Badewanne rinnen. Die Nudeln der Mutter, des Vaters, der Großmutter und des Großvaters kreisen über dem Abfluss.”

Beschädigung durch Entfremdung

“Wie rückständig”, mokierten sich manche deutsche Leser bei dieser Schilderung. Selbstgerecht griff die bundesdeutsche Presse das verächtliche Diktum auf, reicht es bis heute genussreich weiter. Die Landsleute im Dorfe schämten sich. Niemand bedenkt, dass zu jener Zeit auf dem Lande in Mitteleuropa nicht viel Anderes beobachtet werden konnte, - falls überhaupt eine wöchentliche Ganzkörperreinigung auf dem Programm gestanden hat. Wie hätte es nach der Enteignung, nach der Deportation der Schwaben, in der verordneten Armut des Stalin-Kommunismus und in der Knechtschaft der Staatsgüter anders aussehen können?
Früh schon geriet die Autorin in Widerspruch zu ihrem Dorfmilieu. (Ich habe “in all den Jahren lernen müssen, neben mir zu stehen.”). Die Entfremdung wurde zum tiefsten Antrieb ihres Schreibens. Feinfühlig hat der Jury-Chef der Schwedischen Akademie dies ausgelotet: “Ein zentrales Thema ihrer Autorenschaft ist … die Entfremdung: Nicht nur gegenüber einem unterdrückenden, korrupten, stagnierenden politischen System … . … auch als sprachliche Minorität, und auch in der eigenen Stadt, gegenüber Individuen dort, den Eltern, dem eigenen Hintergrund.”
Von dieser Kerndeutung führte ein kurzer Weg zur offiziellen Begründung der Nobelpreiszuerkennung: “Mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa”, heißt es, habe die Auszuzeichnende “Landschaften der Heimatlosigkeit gezeichnet.”
“Ich lebe hier, aber hier bin ich nicht zu Hause,” bekennt die Preisträgerin selbst, “weil ich nicht von hier komme – und dort war ich nicht zu Hause, …. weil ich nicht dazugehörte. … Und so, wie über mich gesprochen wurde in der Heimat, die es hätte sein sollen, war das ja am deutlichsten, dass es keine ist. … Meine Landsleute haben mich ausgeschlossen, schon exkommuniziert nach dem Buch ‚Niederungen’”.
Halt. Hier lege ich Widerspruch ein. Bereits nach Erscheinen ihrer ersten Bücher hat ein aus der pannonischen Tiefebene stammender Referent sich nachweislich für sie eingesetzt. In Berlin, in Dillingen, in Sindelfingen, in München: “Herta Müllers Prosatexte zeichnet eine hochkonzentrierte Bildsprache aus”, sagte er. “Ohne jegliche Schnörkel verdichtet der parataktische Satzbau die wesenhafte Aussage, die durch die blockhafte Einfachheit große Wucht gewinnt.” Und weiter: “Es ist ihr Verdienst, mehr als das anderer Autoren mit weit geringerer Breitenwirkung, wenn die Banater Schwaben als Thema in das Bewusstsein der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit vordringen konnten.”
Nun sind sie in die Weltöffentlichkeit vorgedrungen. Bis heute wühlen mich ihre Texte auf, wenn sie beim Verlust unseres Banater Ankerplatzes die Schwindel erregende Leere, die Haltlosigkeit zwischen den Welten und Zeiten zwingend in Worte bannen: “Seit Windisch auswandern will, sieht er überall im Dorf das Ende.” (Windisch geht ein letztes Mal durchs geleerte Haus.) “Der Schrank ist ein weißes Viereck, die Betten sind weiße Rahmen. … Neben dem Kachelofen hat die Wanduhr einen langen weißen Fleck geschlagen. Neben dem Kachelofen hängt die Zeit. Windisch schließt die Augen. ‚Die Zeit ist zu Ende’, denkt Windisch. Er hört den weißen Fleck der Wanduhr ticken und sieht das Zifferblatt aus schwarzen Flecken. Ohne Zeiger ist die Zeit.”

Erkenntnis und Selbsterkenntnis

Die blitzartig ins Rampenlicht einer weltweiten Anerkennung geratene Minderheiten-Schriftstellerin Herta Müller, die obsessiv auf ihrem Recht beharrt, ihr Leiden am Unrechtssystem des Landes und an den eigenen Leuten, in poetisch dichte Texte zu packen, führt die deutschen Leser zu sich selbst, zur eigenen, ausdifferenzierten Verästelung ihrer Geschichte. Dem deutschen Literaturbetrieb, der seine Druckerpressen im Wohlstandszeitalter gern mit halbseidener, narzisstischer Selbstbespiegelung oder mit Übersetzungen von Bestsellern füttert, tritt Felicitas von Lovenberg entgegen: Herta Müllers Werk funkle “in eine Szenerie hinein, die ziemlich schicksalslos-locker ihre … doch kleineren Krisen- und Beziehungskreise abschreitet. Insofern formuliert der Nobelpreis für Herta Müller einen Anspruch auch an die ganze gegenwärtige deutsche Literatur, im Sinne von: Werdet wesentlicher!” Friedmar Apel fügt hinzu: Herta Müllers Texte seien “eine Provokation für eine Kritik und Literaturwissenschaft, die mit dem Erleben der Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts nicht zu eindringlich behelligt werden möchte.”
Auch nicht mit dem Befinden der verschwindend kleinen deutschbanater Minderheit!
Doch von jetzt ab schickt die Sonne der Nobelpreisträgerin kräftige Lichtstrahlen in das hinterhäusige Dunkel. Die Schriftstellerin, die nie in Deutschland angekommen sein will, wird zu einer “der wichtigsten Autorinnen der deutschen Literatur” (FAZ), weil sie die Gewaltereignisse in jenem übersehenen Krähwinkel unseres Kontinents mit nobelpreiswürdiger Sprache dem Weltgedächtnis eingeschrieben hat.
Großes Glück, nach allem, für uns. Und für die deutsche Literatur.

2010-01-15