Entdeckung der Vielfalt

VDA-Vortrag mit Besuch des “Hauses der Südostdeutschen”

Ende gut, alles gut. Das konnte der Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland (VDA) Rheinland-Pfalz nach seiner letzten Vortragsveranstaltung am 18. März 2011 im südpfälzischen Böchingen sagen. Stand doch das Treffen zunächst unter keinem guten Stern, da die geplante Referentin Henriette Mojem, Geschäftsführerin des “Hauses der Donauschwaben” in Sindelfingen, krankheitshalber kurzfristig absagen mußte. Zu allem Überfluß trübte der Atomunfall in Fukushima psychologisch die Rahmenbedingungen.

Doch der VDA-Vorstand und die im wesentlichen donauschwäbischen Teilnehmer bewältigten alle Probleme. Landesvorsitzender Martin Schmidt improvisierte mit einem Vortrag zum Thema “130 Jahre VDA: Gedanken zu den Rahmenbedingungen heutiger Hilfsarbeit für Auslandsdeutsche”. Er traf damit in den gemütlichen Räumlichkeiten des Weingutes Kern auf eine ebenso interessierte wie diskussionsfreudige Zuhörerschaft, die anschließend gemeinsam das nahegelegene “Haus der Südostdeutschen” mit seinen sehenswerten Beständen besichtigte. Dieses großzügige Heimatmuseum wurde zwischen 1964 und 1971 auf Initiative des aus Sekitsch (Batschka) stammenden Lehrers Theodor Walter errichtet.

Der Vortrag begann mit dem Hinweis auf die weltweit und eben auch in Europa fortbestehende große Bedeutung ethno-kultureller Bindungen und Zusammenhänge. Auch wenn diese im heutigen Deutschland nicht nur erheblichen Teilen der Bevölkerung, sondern vor allem auch den meinungsprägenden Kreisen in Politik und Medien häufig fremd geworden seien, prägten solche Identitäten trotz oder gerade wegen der vereinheitlichenden “Globalisierung” das kollektive Selbstverständnis.

Haus der Südostdeutschen in Böchingen
Haus der Südostdeutschen in Böchingen / Pfalz (Foto: Martin Schmidt)

Schmidt öffnete den “ideologisch verengten Blickwinkel”, indem er – jenseits der üblichen Berichterstattung über Fukushima, Libyen, den Fall Guttenberg etc. – beispielhaft auf andere aktuelle Entwicklungen aufmerksam machte. Diese liefen vor der eigenen Haustür in Europa ab und seien, trotz ihrer weitgehenden Nichtbeachtung, Wegmarken einer kontinentalen Neuordnung vor dem Hintergrund von Eurokrise (Stichwort “Transferunion”), Zentralismuskritik und bewußter Wertschätzung kultureller Unterschiede. Jenseits der immer fraglicher werdenden Brüsseler Bundesstaatspläne formierten sich dem Referenten zufolge informelle Staatengruppen mit unterschiedlichen Interessenlagen, erstarkten Patriotismen und Regionalismen und zeichneten sich sogar neue Nationalstaatsgründungen ab.

Während sich die Veränderungen hierzulande bislang vor allem unterschwellig abspielten (eine repräsentative Umfrage des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts aus dem Januar 2011 ergab, dass nur noch 41 Prozent der Deutschen im EU-Europa “unsere Zukunft” sehen), seien die tiefgreifenden Veränderungen in Wales, Schottland, Katalonien oder Flandern kaum mehr zu übersehen. So sprachen sich am 3. März dieses Jahres 63,5% der Waliser in einer Volksabstimmung dafür aus, die gesetzgeberischen Befugnisse der erst 1999 gegründeten Nationalversammlung in Cardiff deutlich zu erweitern und in puncto Autonomiegrad gegenüber London zu den aufmüpfigen Schotten aufzuschließen. Zu den Bereichen, in denen die walisische Regionalregierung künftig eigene Gesetze erlassen kann, ohne dass dafür die Zustimmung des britischen Parlaments erforderlich ist, gehören Gesundheit, Umwelt, Verkehr und nicht zuletzt die Bildungspolitik. Das kleine keltische Volk beendete damit das bisherige System, bei dem die eigene Nationalversammlung sich die Zuständigkeit von Fall zu Fall von London genehmigen lassen musste. Letzteres entscheidet fortan nur noch über die Außenpolitik, die Verteidigung, die Sozialversicherung und den Außenhandel.

In bezug auf Katalonien wurde an den Sieg Spaniens bei der Fußball-WM im letzten Sommer und den anschließend rot-gelb-roten Einheits-Jubel nicht nur der dortigen Presse erinnert. Doch nur wenige Monate später, im November 2010, gab es in Katalonien eine Regionalwahl, die die Tendenz zu immer größerer Eigenständigkeit nochmals beschleunigte. Als stärkste Kraft ging aus dieser mit 38,5 Prozent die bürgerlich-regionalistische Partei CiU unter dem Unabhängigkeits-Befürworter Artur Mas hervor, die sich seither auf kleinere, radikalere nationalistische Parteien stützt. Die einheitsstaatlich gesinnten Sozialisten des spanischen Ministerpräsidenten Zapatero stürzten bei der Regionalwahl auf 18 Prozent ab – die schlimmste Niederlage ihrer Geschichte in Katalonien.

Gedenkstein am Haus der Südostdeutschen in Böchingen
Gedenkstein am Haus der Südostdeutschen in Böchingen / Pfalz (Foto: Martin Schmidt)

Aus deutscher Sicht besonders beachtenswert sei der absehbare Zerfall Belgiens. Dieses immer heterogener erscheinende Staatswesen ist längst Negativ-Weltrekordhalter bei der Bildung bzw. Nicht-Bildung einer neuen Regierung nach Wahlen. Dirk Schümer schrieb dazu am 10. Januar in einem ausführlichen Feuilleton-Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung in beißender Schärfe unter der Überschrift “Am Siechbett des belgischen Patienten”: “Die Totalblockade, die schon öfter drohte, ist jetzt da. (…) Bart de Wever, mit seiner konservativ-gemäßigten ‚Nieuwe-Vlaamse Alliantie‘ (N-VA) triumphaler Wahlsieger am endlos fernen 13. Juni 2010, gab in Interviews die Parole aus: ‚Lassen wir dieses Belgien geruhsam verdunsten.‘ Genau das geschieht. Die Aussicht auf zwei neue Nationen inmitten von Europas administrativer Kernregion gefällt immer mehr verbitterten Bürgern, während die Nachbarn sich die Augen reiben.

Doch hat der Historiker de Wever nicht recht, wenn er den belgischen Staat einhundertachtzig Jahre nach seiner Gründung für gescheitert erklärt, weil sich die knappe Hälfte französischer Muttersprachler partout nicht auf die flämische Mehrheitsbevölkerung einlassen möchte? Hat ein Staat, dessen französischsprachiger Teil sich von der Niederländisch sprechenden Bevölkerung gigantisch alimentieren lässt, aber dessen Kultur und Historie ostentativ ignoriert, nicht seine Existenz verspielt? Und gibt es dieses Belgien abseits seiner Symbole überhaupt noch?”

In Deutschland sollte man sich angesichts solcher Wahrheiten nach Ansicht des rheinland-pfälzischen VDA-Vorsitzenden endlich mit der Zukunft der ostbelgischen Regionen Eupen und St. Vith beschäftigen, also dem amtlich anerkannten Siedlungsgebiet der “deutschsprachigen Gemeinschaft”. Während die Masse der Politiker und Journalisten rhetorisch noch immer an dem erst 1830 gegründeten Belgien festhält, fürchtet dort die kleine deutsche Minderheit um ihre mühsam errungenen kulturellen Rechte, die bei einer Zugehörigkeit zu einer unabhängigen oder mit Frankreich vereinigten Wallonie massiv gefährdet wären.

Auch im heutigen italienischen Einheitstaat werde hochemotional über nationale Grundsatzfragen diskutiert. Die Debatte erreichte kürzlich einen Höhepunkt anläßlich der 150-Jahr-Feiern der Gründung des Königreiches Italien am 17. März 1861. Sowohl in weiten Teilen Norditaliens, wo die auf immer größere Eigenständigkeit von Rom bedachte Lega Nord politisch den Ton abgibt, wollten viele Menschen nicht mitfeiern, als auch – und zwar in noch weit stärkerem Maße – in Südtirol.

Vor dem Hintergrund einer durch den Streit über die Beschilderung von Wanderwegen und den überfälligen Abriß faschistischer Denkmäler aus der Mussolini-Zeit ohnehin angeheizten Stimmung verkündete Landeshauptmann Luis Durnwalder, dass niemand von den Südtirolern verlangen könne, die Einheit Italiens und damit die erzwungene Loslösung von Österreich nach dem Ersten Weltkrieg zu feiern. Wörtlich erklärte Durnwalder: “150 Jahre Italien bedeuten für uns die Trennung vom Vaterland, die Angliederung an Italien, Faschismus sowie die Nachkriegszeit mit der Verweigerung der Selbstbestimmung… ‚Es lebe Italien‘, das kommt niemals über meine Lippen.” Wüste Beschimpfungen der Südtiroler samt ihrer politischen Spitzenvertreter aus den Reihen der Staatsnation folgten, und Präsident Napolitano forderte unmißverständlich, daß die Südtiroler Italiener zu sein hätten.

Doch all dies wurde und wird in der bundesdeutschen Medienöffentlichkeit allenfalls oberflächlich beachtet. Gleiches gelte für den donauschwäbischen Kulturraum im allgemeinen und ein neuerliches Ereignis aus Budapest im besonderen. Ende Februar hatte die Parlamentsfraktion des in Ungarn regierenden Bürgerbundes (FIDESZ) Rudolf Weiss, den Vorsitzenden des Deutschen Volksverbandes aus Maria Theresiopel/Subotica (Batschka/Serbien), als Hauptredner ins ungarische Nationalparlament eingeladen. Anlaß war der “Tag der Erinnerung an die Opfer des Kommunismus”, der in der Republik Ungarn alljährlich am 25. Februar begangen wird. Weiss sprach in dem hohen Haus zum Thema “Kommunistische Verbrechen gegen das Deutschtum in der Wojwodina (1944-1948)”. Er bezeichnete die Verbrechen gegen die Deutschen im ehemaligen Jugoslawien als “Genozid” (Völkermord) und formulierte aktuelle Forderungen seiner Minderheitenorganisation.

Da sich die offizielle bundesdeutsche Politik sowie ein Großteil der hiesigen Presse gegenüber diesem außergewöhnlichen Auftritt und vergleichbaren Zeugnissen wachsender Wertschätzung des auslandsdeutschen Geschichts- und Kulturerbes unberührt zeigten, sei der interessierte Zeitgenosse auf donauschwäbische Spezialmedien wie die Netzseite der Donauschwäbischen Kulturstiftung oder auf “Zufallsfunde” angewiesen. Vor allem aber unterstreiche diese angesichts europaweiter Selbstbesinnungsprozesse immer unzeitgemäßere Haltung, so betonte der Referent abschließend, die Informationspflicht einer Organisation wie des VDA mit seiner nunmehr 130 Jahre zurückreichenden stolzen Geschichte als Lobby für deutsche Landsleute in aller Welt.

Martin Schmidt
Vorstandsmitglied der Donauschwäbischen Kulturstiftung

Kontakt:
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Email: info@vda-globus.d
Web: www.vda-globus.de

Haus der Südostdeutschen, Prinz-Eugen-Str. 22, 76833 Böchingen, Tel.: 06341-63415

2011-05-15