Bibliographische Daten:
Luisa Lang Owen: Des Bischofs Kleid.- Novo Milosevo 2013. Verlag des Banater Kultur-Zentrums. 72 Seiten. Mit Holzschnitten von Robert Hammerstiel. Preis: 25 Euro zzgl. Versandkosten.
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“Des Bischofs Kleid”, wie im “Stundenbuch” von Rainer Maria Rilke beschrieben, war es, vor dem er “die Kleider abtat auf dem Markte und bar einherging”, der einst reiche Arme, Franziskus von Assisi, bar seiner Habe, seines Stolzes, seines gesellschaftlichen Status, doch habhaft seiner Würde, Demut und Liebe. Nicht vor dem Menschen, nicht vor seinesgleichen entblößte er sich bis auf die Seele, sondern vor dem Träger des liturgischen Gewandes, dem Symbol des christlichen Ritus, des Dialogs mit dem Gnade spendenden Göttlichen.
In diesem Moment der Transzendenz zwischen Himmel und Erde, jeder irdischen Last enthoben, so wie er, entführt in die Erinnerung, wandelt die Seele der Dichterin zwischen den Welten, hinterlässt nur die Tränen als sichtbare Spur. Die Gegenwart taucht ein in die Vergangenheit, Träume reisen in die Geborgenheit, vom Alb verführt in die Verlorenheit von Schmerz, Angst und Suche. “Sehnsucht” heißt das Zuhause im Dort und Da, der “Platz, den jeder Arme hat” (S.15). – Es ist soweit. Der Platz ist besetzt, von ihr, in ihr, heute, wo ihr Verstandensein, wo ihre Heimat ist.
Drei Jahre lang war Luisa Lang Owen ab 1945 als kleines Mädchen gefangen gehalten, weggesperrt, “vom großen Dunkel vergessen” (S.27), mit ihren neun Jahren, mit ihren zehn, ihren elf Jahren: “Und plötzlich von dem, das uns weiß, ausgewiesen,/verstoßen, heißt Nicht-gemeint-Sein: Verlorensein./Im Tode verschwiegen, vertrieben aus dem eignen Sein,/heißt ausgelöscht: Nichtgewesensein.” (S. 65) Rudolfsgnad/Knićanin, ein schmuckes deutsches Dorf im damals jugoslawischen, heute serbischen Banat in der malerischen Tiefebene der Vojvodina gelegen, war von der vertrauten heimatlichen Umgebung zum Schreckensszenario eines mit Stacheldraht umzäunten und von Partisanen des kommunistischen Tito-Regimes streng bewachten Konzentrationslagers für zwanzigtausend Menschen der deutschen Minderheit, der Donauschwaben, mutiert.
Hunger, Durst und anderen Qualen an Leib und Seele, die Kinder nicht erdulden dürften, war sie ausgesetzt, die kleine Donauschwäbin, - die Feindin, - die Kriegsverliererin! Die Gefühle und Eindrücke, die ihre kindliche Psyche in dieser “Jahre-langen-Nacht” (S.27) verarbeiten und verkraften musste, hat die erwachsene, in den USA lebende bildende Künstlerin, Lyrikerin und Autorin Univ.-Prof.i. R. Dr. Luisa Lang Owen Jahrzehnte später in die vorliegenden Gedichte und Prosatexte gelegt. Durch ausdrucksstarke Wortbilder und ergreifende Sprachmelodien wird die Erlebens- und Gefühlswelt ihrer schweren Kinderjahre evoziert, die anlässlich des Besuches der Gedenkstätte am Massengrab für die Toten in Rudolfsgnad im Jahr 2006 über sie hereinbricht. Es war dies ihre bittere Lehrzeit gewesen über die vielen Gesichter des Todes, über das Gelähmtsein vor Angst, über das Erleiden von Demütigungen, Sadismus, Gewalt. Ihr “Blut spuckt düstre Gedanken. Flüche.”, gesteht Luisa Lang Owen, am Massengrab stehend (S. 19). “Einer von uns sollte schreien, der Klage Stimme sein!” (ebd.), braust sie auf, unmittelbar gefolgt von Zweifeln und Selbstvorwürfen, die viele Überlebende plagen (“Wir sind nicht schuld, dass wir am Leben blieben”, ebd.). Die tiefen Abgründe und Weiten der menschlichen Seele tun sich hier auf, ihre Aufruhr und Verwirrung in der Suche von Schuld am eigenen Leid, um schließlich das Geschenk des inneren Friedens zu empfangen: die “Stimmen der Erlösung, der Liebe. Ich glühe voll Licht.” (ebd.)
Als lyrisches wie biographisches Ich gleichermaßen erzählt die Dichterin aus der Perspektive des Kindes, reflektiert das Geschilderte jedoch als daran gereifte und ihrem Schicksal überlegen gewordene Frau. Darin findet der Leser Trost: Nach dem unerträglich erscheinenden Leid des Mädchens Luisa wird die Möglichkeit des Überlebens, des Weiterlebens, des “Dennoch-Lebens” aufgezeigt, mit sensibilisierten, geweiteten Sinnen und einer diffusen Wehmut im Herzen, die geblieben ist: “[…] das Erlebte, unsere Trauer und die Angst, die große, auch die nehmen wir mit (für immer).” (S. 55)
Die rhythmisch-fließende, an Metaphern, Wortschöpfungen, Assonanzen, Alliterationen und anderen poetischen Kunstgriffen reiche Sprache vermittelt nicht den Eindruck einer metrisch gebundenen, sondern einer lebendig erzählenden, mitreißenden künstlerischen Sprache.
Mit gekonnt platzierten Details, kleinen Gesten und Aussagen gelingt es Luisa Lang Owen, die Gefühle und Instinkte des Lesers direkt anzusprechen und ihn mitten ins Herz zu treffen. So benötigt sie nur wenige Zeilen, um zu beschreiben, wie sich die kleine Luisa beim einen Tag langen kollektiven “Strafe-Stehen” in der prallen Hochsommerhitze, mit dem Gesicht zu Sonne, ohne Essen, ohne Wasser, in ihrer Not mit ihrem Röckchen Luft zuspielt, so wie es Mädchen gerne tun. Durch diese kleine Bewegung wird das hilflose Geschöpf in dem Gedicht zur Realität, wird zu einem Kind aus Fleisch und Blut, könnte unsere Mutter, wir selbst oder unser Kind gewesen sein. – Welche Vorstellung!
Zur gleichen Zeit kämpfte in einem anderen Lager ein donauschwäbischer Bub aus Werschetz/Vršac ums Überleben. Wenn Gott ihm beistehe und ihn nicht verhungern ließe, wenn er eines Tages Bleistifte, Farben und Papier besäße, schwor er, würde er alles aufzeichnen, für seinen Freund Mischi, der verhungert war, und für seinen Freund Jani, dem auf der Suche nach essbarem Klee das Gesicht weggeschossen worden war. “Hier habe ich nur alte, rostige Nägel, mit denen ich in den ausgetrockneten, kahlen Boden ritze.”, erinnert sich Prof. Robert Hammerstiel in seinem Buch “Von Ikonen und Ratten” (Wien: Brandstätter, 1999, S. 206). Heute ist er ein international bekannter Künstler, seine Bilder werden in den großen Häusern der Kunst ausgestellt. Die Erinnerungen seiner Kindheit, die Bilder des Schreckens und allgegenwärtigen Todes inmitten trostlosen Alltags, makabren Kinderspiels neben Leichen und verzweifelten Überlebenskampfes, seine Bekenntnisse von Glaube und Hoffnung ritzt er immer noch in Holz. “Mir ist, als müsste ich laut in die Ebene hinausrufen: ‚Mischi, Mischi!‘, und ich höre das Echo und das schreckliche Wort ‚verhungert‘ zurückschallen. Mein Gott, du musst es wissen, ich bin dreizehn Jahre und sieben Monate alt, und solange ich lebe, werde ich dieses Echo hören und seine klagende Stimme.” (ebd.)
So wurden auch Luisa Lang Owens Gedichte von Robert Hammerstiel in Holz geritzt, unaufgefordert, zu ihrer Überraschung, weil er es tun musste. Weil diese beiden Künstler die gleiche Kindheit verbindet, eine Lagerkindheit, mit den gleichen traumatischen Erfahrungen, die “über Raum und Zeit vereinen” (Luisa Lang Owen), bis hin zu Begegnungen mit denselben Menschen, wie mit dem Mädchen Lissi, das vergewaltigt worden war, bis es den Verstand verloren hatte. Als Illustrationen zu den Texten tragen die expressiven Holzschnitte von Robert Hammerstiel zu einem Gesamtkunstwerk von Wort und Bild bei, dessen packendem Eindruck sich der an Zeitgeschichte, Literatur und Kunst interessierte Leser kaum entziehen kann. Wie mächtige Bühnenbilder verleihen die kontrastierenden schwarz-weißen figuralen Darstellungen dem stellenweise gebets- und gesangsähnlich Gesagten szenische Präsenz und bildliche Ausdruckskraft. Vor allem jedoch berührt die menschliche Tragik dieser beiden donauschwäbischen Kinderschicksale, die nach Jahrzehnten der persönlichen und künstlerischen Aufarbeitung im Zusammenspiel zweier großer Künstler und Zeitzeugen als ihre Repräsentanten festgehalten werden. Den Überlebenden wird damit eine Stimme und den Toten ein Andenken zuteil, das auch sie unvergessen werden lässt.
In der Metapher des bischöflichen Kleides für die göttliche Instanz auf das “nackte” Menschsein, auf den Glauben und die ethische Haltung reduziert, bleibt allein der freie Wille, zu wählen zwischen Hass, Rachegefühlen und Selbstmitleid oder Liebe zu den Menschen, dem Glauben an eine transzendente Moral und Gerechtigkeit sowie der Gnade, darauf vertrauen zu können. Luisa Lang Owen und Robert Hammerstiel haben ihre Entscheidungen getroffen.
Susanne Paulus
Anmerkungen zu Rudolfsgnad im Banat:
Ein Ort, der bis zur Internierung der deutschen Bevölkerung 3200 Einwohner hatte. Dieser Ort wurde von Oktober 1945 bis März 1948 zum größten Lager für die Deutschen in Jugoslawien mit bis zu 20 500 Gefangenen und mehr als 11 000 Toten umfunktioniert und gilt als Vernichtungslager für Alte, Kranke, Kinder und Frauen mit Kleinkindern. Die ersten Massengräber wurden im hinteren Teil des Friedhofs von Rudolfsgnad ausgehoben. Bis zum 13. Februar 1946 wurden dort 3334 im Lager verstorbene Personen begraben. Danach wurde seitens der Partisanenführung die Teletschka, eine etwa zwei Kilometer südlich des Ortes gelegene Anhöhe, für die Anlage von weiteren Massengräbern ausersehen. Dort sind vom 14. Februar 1946 bis März 1948 mehr als 7000 Deutsche verscharrt worden.