Ivan Poljaković: Schatten der Vergangenheit. Flucht und Vertreibung in der donauschwäbischen Literatur der Nachkriegszeit
Verlag Novum, Zagreb 2009, 295 S. (Sjene Prošlosti. Bijeg i progon u poratnoj književnosti podunavskih Švaba, Zagreb, listopad 2009, Novum, 227 S.), € 46.-, ISBN 978-953-6808-28-1
Das Buch kann beim Autor bestellt werden. ivan.poljakovic@zd.t-com.hr, Tel. ++385 23 332 414.
Bei Bestellung von mehr als 10 Exemplaren verringert sich der Preis auf € 39.
Im Schatten einer unseligen Vergangenheit standen über ein halbes Jahrhundert hinweg nicht nur deutsche Opfer von Kriegsverbrechen der Alliierten, nicht nur die Vertreibung von 14 Millionen Deutschen aus ihrer angestammten Heimat, von denen mehr als zwei Millionen ums Leben kamen. Dafür wurde niemals jemand zur Verantwortung gezogen. Auch die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Literatur der deutschen Heimatvertriebenen war über viele Jahrzehnte aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt. Nachdem der Nationalsozialismus auslandsdeutsche Literatur als Domäne völkischer Wissenschaft okkupiert und diskreditiert hatte, legte sich nach dem Sieg über den Faschismus 1945 auf die literarischen Regionen, insbesondere auf die Vertreibungsliteratur, ein Tabu, das in der Germanistik bis zum Ende der 1980-er Jahre fortbestand. Den sehr vernachlässigten Gegenstand begannen Philosophen wie Hermann Lübbe und Literaturwissenschaftler wie Norbert Mecklenburg aufzuarbeiten. Sie entkräfteten den Provinzialismusverdacht, indem sie im Rückbezug auf das Regionale die Rettung des Besonderen entdeckten und zeigten, daß Regionalität und Universalität nicht nur in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis stehen, sondern zuweilen auch weltliterarische Geltung reklamieren können. Josef Nadler beschäftigte sich nüchtern mit der Literatur der deutschen Stämme, Louis Ferdinand Helbig nahm sich erstmals des Themas Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Literatur Mittel- und Osteuropas an, in der sich ein ungeheurer Verlust widerspiegelt. Aber diese Pioniertaten konnten die herrschende Voreingenommenheit nicht völlig ausräumen. Ivan Poljaković machte diese Vorstöße zu grundlegenden Motiven seiner Doktorarbeit. Er nimmt vor allem die bisher stiefmütterlich behandelte deutsche Literatur aus dem Südosten Europas in den Blick, sucht sie mit wissenschaftlicher Methodik von den Verkrustungen der Ideologie, des Tabus und des Vorurteils zu befreien.
Erste Anstöße zur Behandlung seines Themas hatte der 1956 in Subotica (Maria Theresiopel/Batschka) geborene Autor durch die entsetzlichen Balkan-Kriege der 1990-er Jahre erhalten, die ihn lebhaft an Erzählungen seines Vaters über die Vertreibung der Deutschen aus der Vojvodina erinnerten und ihn die volle Dimension der donauschwäbischen Tragödie spüren ließen. Poljaković studierte Germanistik und Anglistik in Innsbruck, Cambridge, Rostock und Zagreb. Nach einem politischen Intermezzo als einziger kroatischer Abgeordneter im Parlament der Vojvodina emigrierte er 1996 nach Neuseeland, wo er an der Universität Auckland studierte und seine Forschungen zur donauschwäbischen Vertreibungsliteratur fortsetzte. 2004 erlangte er dort die Doktorwürde mit seinem Dissertationsthema Flucht und Vertreibung in der donauschwäbischen Literatur der Nachkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung des Werks von Johannes Weidenheim. 2007 kehrte er nach Kroatien zurück, wo er seither als Leiter des Fremdspracheninstituts an der Universität Zadar tätig ist.
In seiner literaturwissenschaftlichen Untersuchung nimmt der Autor seiner eigenen Forderung gemäß eine regionalistische Perspektive ein und versucht sie mit einer interkulturellen Betrachtungsweise zu verbinden. Auf dieser Plattform könne die Erfahrung regionaler und kultureller Differenz diskutiert und dadurch das Verständnis für das Fremde, für das Andere im Medium literarisch-ästhetischen Verstehens organisiert werden.
Um in sein Thema einzuführen, schickt der Autor dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand eine kurz gefaßte Geschichte der Donauschwaben von der Kolonisation bis heute voraus, ebenso gibt er einen Abriß der donauschwäbischen Literaturgeschichte von ihren Anfängen bis zur Vertreibung. Dieser propädeutische Überblick ist notwendig, um den Hintergrund der zu behandelnden Literatur verständlich zu machen und wegen der unverbrauchten Perspektive eines engagierten Außenseiters auch für den informierten Leser von Wert.
Poljaković berücksichtigt in seiner umfangreichen Studie nahezu fünfzig Autoren. Ausschlaggebend für die Systematik der Darstellung sind für ihn weder die Herkunft des Autors noch die Zeit der Entstehung ihrer Werke, weder die Gattung noch die Literaturlandschaft, sondern allein das Thema Vertreibung. Untersucht und interpretiert werden vierzig Romane, über fünfzig Erzählungen, fünf Bühnenstücke und viele Gedichte.
Im Gegensatz zu Rumänien und Ungarn sind die Donauschwaben Jugoslawiens samt ihrer Kulturtradition nahezu vollständig aus dem Land verschwunden: seit 1944 durch Evakuierung, Flucht, Verschleppung, Massenverluste in den Internierungslagern, verschleierten Abschub und schließlich seit 1950 durch erlaubten “Transfer”. Nur 1,8 % der Deutschen sind im Land verblieben. Demgegenüber lag der Anteil in Ungarn bei 38,5 % und in Rumänien bei 46,8 %. Aus einem expansionistischen Nationalismus, der sich in Serbien durch das ganze 20. Jahrhundert zog, entwickelten sich seit dem Ersten Weltkrieg Vertreibungspläne, die im Zweiten Weltkrieg über die Serben in das programmatische Denken der Partisanenbewegung Titos eindrangen. Wenn von donauschwäbischer Vertreibungsliteratur die Rede ist, treten daher in den meisten dazu gehörigen Werken als Hauptfiguren neben den Donauschwaben die Serben auf. Fast ausschließlich auf diese beiden Völker konzentrieren sich die Auseinandersetzungen über Schuld, Sühne und Versöhnung.
Um die formale und inhaltliche Charakterisierung derjenigen Werke, die unter dem Eindruck von Flucht und Vertreibung entstanden sind, geht es im zweiten Teil dieser Abhandlung. Dabei reicht die Themenpalette von den Vorboten der militärischen Gewalt (wie in Heinrich Lauers Roman Kleiner Schwab – großer Krieg) über das Erleiden von Terror und Racheakten, die Festnahme, Verschleppung und Enteignung (wie in Theresia Mohos Roman Marjanci oder Karl Springenschmids Roman Das goldene Medaillon), Internierung mit Hunger, Krankheit, Tod, Flucht und Rettung aus den Konzentrationslagern (wie in Andreas Laubachs Roman Nur mit meinen Kindern oder Maisbrot und Peitsche von Konrad Gerescher) über das Leben der Deutschen unter ungarischer, rumänischer oder jugoslawischer Militär- oder Zivilverwaltung (wie etwa in Franz Bahls Erzählung Spuren im Wind) bis hin zur Erfahrung des Heimatverlusts im unmittelbaren Erleben und in der Erinnerung (wie in Johannes Weidenheims Roman Treffpunkt jenseits der Schuld), zur Ankunft im Westen mit den Schwierigkeiten der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Eingliederung (wie in Juro Marčinkovićs Roman Fremde im eigenen Haus), schließlich auch zur Erinnerung an die alte Heimat, die in fast allen Texten mehr oder weniger dominiert, wie etwa in Franz Hutterers An den Ufern der Donau) und zur Wiederbegegnung mit der alten Heimat (wie beispielsweise in Johannes Weidenheims Roman Heimkehr nach Maresi).
In der donauschwäbischen Vertreibungsliteratur diagnostiziert Poljaković die poetische Verdichtung und Verallgemeinerung persönlicher Schicksale. Immer wieder komme die Problematik einer kollektiven Bestrafung für eine kollektivierte Schuld zum Ausdruck. Zu einem großen Teil seien die Deutschen aus keinem anderen Grund vertrieben worden als dem, daß sie Deutsche waren oder sich zum Deutschtum bekannt haben. Die Schuld bilde ein Leitmotiv im überwiegenden Teil dieser Literatur, nicht die Schuld Einzelner, sondern Schuld und Sühne einer ganzen Volksgruppe. Daher sei das Darstellungsprinzip dieser Literatur eher die epische Breite als die dramatische Zuspitzung. Ihre Leitfiguren seien keine Helden oder Rebellen, sondern Antihelden und stille Opfer. Raisonneure und Intellektuelle unter den Protagonisten fehlen fast völlig, denn es gehe um das bloße Überleben und die Überwindung des seelischen Leids.
Im Gegensatz zur sogenannten Heimatliteratur, die vornehmlich menschliche Bedürfnisse innerhalb einer bestimmten Volksgruppe befriedigt, bediene sich die Vertreibungsliteratur trotz ihres stark regionalen Bezugs durchaus moderner Mittel der Darstellung und reflektiere Art und Gründe des Heimatverlusts. Wenigstens ihrer Tendenz nach sei sie kritische Heimatliteratur und habe eine ebenso überregionale wie auch internationale Dimension, indem sie Vertreibung als ein soziopsychologisches Phänomen zu begreifen versuche.
In diesem ersten Versuch, die donauschwäbische Vertreibungsliteratur insgesamt in systematischer Weise unter Einbeziehung bisheriger Arbeiten aus Forschung und Journalistik zu untersuchen, zu interpretieren und zu bewerten, kann Poljaković sämtliche gegen sie erhobenen Vorwürfe widerlegen. Der Verfasser resümiert, daß ein umfangreiches Korpus von teilweise erstrangigen literarischen Werken zum Thema “Flucht und Vertreibung der Donauschwaben” existiere. Dabei mache die donauschwäbische Literatur einen bedeutenden Teil der gesamten deutschen Vertreibungsliteratur aus. Allen Unkenrufen zum Trotz hätten die untersuchten Werke fast durchgehend ein erstaunlich hohes Niveau. Die Verfolgten hätten sich niemals radikalisiert, obwohl die Racheakte der Sieger tiefe psychische Wunden bei ihnen hinterlassen haben. Statt der Rhetorik der Kriegstreiber und Revanchisten zu verfallen, versuchen die Autoren der Vertreibung, die schrecklichen Ereignisse durch Reflexion literarisch vor dem Vergessen zu bewahren und zu einer Lehre künftiger Friedfertigkeit zu machen. In diesen literarischen Werken sei keine Spur von Revanchismus zu entdecken. Es gehe in ihnen vor allem um Deutsche, die sich nicht auf die Seite des Faschismus stellen. Völkische oder nationalsozialistische Tendenzen seien kaum feststellbar. Im Gegenteil habe diese Literatur wesentlich zum allgemeinen Kampf gegen den Nationalsozialismus beigetragen und geholfen, nationalistische Zukunftsvisionen zu verhindern. Alle Werke, die der Autor interpretiert, weisen eine Bestrebung nach harmonischem Zusammenleben aller Menschen auf, ohne Rücksicht auf ethnische Herkunft, Sprache oder materielle Verhältnisse. Bei allen Autoren würden die nichtdeutschen Opfer keineswegs eine vernachlässigte, sondern oft eine wichtige Rolle spielen. Eine tief eingreifende Auseinandersetzung mit Fragen der Schuld und Versöhnung sei in vielen der besprochenen Bücher gelungen, vergleichbar der glaubhaften Vergangenheitsbewältigung in der Holocaustliteratur. Der wohl gravierendste Einwand gegen die Literatur der Vertreibung zielt auf ihre angebliche “Gefährlichkeit” ab. Ihn ad absurdum geführt zu haben, zählt der kroatische Germanist zu den wichtigsten Ergebnissen seiner Untersuchung. Vielmehr hätten die donauschwäbischen Autoren einen beachtlichen Beitrag zur Versöhnung mit ihren einstigen Nachbarvölkern, besonders mit den Serben, geleistet und völkerverbindende Zeichen gesetzt.
Im Mittelpunkt seines Interesses steht der bedeutendste Vertreter der donauschwäbischen Vertreibungsliteratur: Johannes Weidenheim. Ihm und seinen Werken ist der dritte Teil dieser Abhandlung gewidmet. Poljaković hält Weidenheim für eine Bereicherung der deutschen Literatur und stellt den vergleichsweise unbekannten Schriftsteller Miroslav Krleza und Danilo Kiš an die Seite, den längst der Weltliteratur angehörenden literarischen Zeugen des untergegangenen Pannonien. Vor allen anderen donauschwäbischen Literaten sei es Weidenheim mit seinen – von präziser Fabulierfreude, realistischer Ehrlichkeit und Toleranz im Umgang mit der Eigenart anderer Völker getragenen – Werken gewesen, der alle Vorwürfe und falschen Anschuldigungen gegenüber der Vertreibungsliteratur “mit einem Schlag widerlegt und mit seinem erzählerischen Können beweist, daß die Vertreibungsliteratur auch zu der ‚großen’ Literatur gehören kann”.
Zweifellos hat Poljaković eine repräsentative und ausgewogene Auswahl aus der donauschwäbischen Literatur getroffen. Neben den bereits genannten Vertretern werden beispielsweise auch Nikolaus Berwanger, Nikolaus Engelmann, Wendel Faltum, Klaus Günther, Hans Wolfram Hockl, Hansjörg Kühn, Herta Müller, Johann Petri, Hans Sonnleitner, Hans Thurn, Roland Vetter und Jakob Wolf gewürdigt. Vermissen könnte man dennoch eine ganze Reihe von Autoren, von denen Nikolaus Britz, Hans Christ, Hans Diplich, Wilma Filip, Heinrich Göttel, Ernst Hodschager, Bruno Kremling, Helene Nachmann, Hans Rasimus sowie Julius und Viktor Stürmer nur einige der klangvollsten Namen sind. Daß zwar der Dichter Johannes Wurtz, aber nicht sein Volksschauspiel Zweihundert Jahre unterwegs Erwähnung findet, mag ein wenig verwundern. Zu berichtigen ist die Behauptung, daß Martha Petris Buch Schrifttum der Südostschwaben in seiner Entwicklung von den Anfängen bis zur Gegenwart aus dem Jahre 1940 die erste Überblicksdarstellung der donauschwäbischen Literatur sei. Ihr gingen vielmehr zwei Versuche voraus: die 1911 verlegte Anthologie Schwaben im Osten von Adam Müller-Guttenbrunn mit einer literaturhistorischen Einleitung und ein Traktat von Conrad Jacob Stein aus dem Jahr 1915 mit dem Titel Fünfundzwanzig Jahre deutschen Schrifttums im Banate. Ein Beitrag zur deutschbanater Geistesgeschichte der Jahre 1890-1915. Anzumerken ist auch, daß der rumäniendeutsche Dichter Bossert versehentlich den Vornamen Werner statt Rolf erhielt. Sehr nützlich für anschließende Forscher ist das umfassende und übersichtlich untergliederte Literaturverzeichnis, das den fünften Teil dieser nachgedruckten Dissertation bildet. Der beigegebene Bildteil in der Mitte zwischen dem deutschen Text und der auf den Kopf gestellten, vom Rücken her lesbaren Übersetzung ins Kroatische ist von suboptimaler Kopiererqualität und hätte in seiner eher irritierenden als instruierenden Beliebigkeit auch fehlen dürfen.
Ansonsten ist diese Arbeit außerordentlich lehrreich und empfehlenswert. Vor allem die Befreiung eines bisher ignorierten und verleumdeten Zweiges der deutschen Literatur aus den Verliesen der Nachkriegszeit ist überaus verdienstvoll. Eine breite Rezeption dieser Werke hätte zwar bereits in der Zeit nach ihrer Entstehung zur Entspannung zwischen den verfeindeten Völkern und zur Überwindung ideologischer Denkblockaden beitragen können. Sie unter der Decke zu halten, entsprach jedoch offenbar den Dogmen des Kalten Krieges und der Aufrechterhaltung seiner politischen Konstellationen. Dafür, daß die donauschwäbische Vertreibungsliteratur wenigstens künftig in ihrer Grenzen überwindenden Qualität wahrgenommen werden und die ihr angemessene Rolle bei einer erst noch bevorstehenden Völkerverständigung einnehmen kann, hat Ivan Poljaković den Weg geebnet.
2011-06-23