Stefan Barth: Stimmungsbild aus der Batschka

Stefan Barth über eine Lesung in Temerin und viele interessante Gespräche

Dieser Reisebericht von Stefan Barth knüpft an den Beitrag “Lesung in Betschej” (Archiv Serbien) an. Der aus Futok (Batschka) stammende Schriftsteller (“Ein Junge aus der Nachbarschaft”), der heute in Erlangen lebt, hielt sich vom 4. bis 21. September 2009 in der Vojvodina auf. Der Lesung in Betschej (8. September 2009) folgte eine weitere in Temerin.

Die Lesung in Temerin fand am 11. September 2009 in der Galerie des Lukijan Musicki Kulturzentrums statt. Organisiert hat es Herr Csorba Béla, Sekretär des Temeriner Bürgermeisters Guszton András, und Frau Anikó Hórváth, Kulturreferentin im Kulturzentrum. Der Saal war total voll. Bis zum Beginn der Lesung lief der Videofilm Unser Heimatdorf Futok gestern und heute von mir im Jahr 2000 gedreht. Wir, d.h. Frau Radović, Prof. Končar und ich, wurden mit einer Musikeinlage empfangen. Ein junger Mann mit Gitarre und eine junge Frau mit Flöte spielten uns ein sentimentales Lied zur Einstimmung auf das Thema “Lager Jarek” (unweit von Temerin) vor. Herr Csorba erzählte zunächst, dass er ein Buch aus dem Jareker Archiv bekommen und erforscht hat und darin von rund 2700 Toten die Rede sei. Es fehlten aber noch zwei Bücher. Es wurde - nach einem kurzen Einleitungsreferat von Frau Radović, Prof. Končar und mir - aus dem Buch ein Teil der Texte, die über das Lager erzählten, vorgelesen.
Ein Konzentrationslager ist ein Ort, an dem Menschen interniert werden, die von der militär-polizeilichen Verwaltung nach verschiedenen Kriterien ausgewählt und für eine bestimmte oder unbestimmte Zeit eingesperrt werden, in der Regel ohne richterlichen Beschluss. Nach dieser Definition war Jarek ein Konzentrationslager. Das wurde auch bei der Buchbesprechung zum Ausdruck gebracht. Alle Wortbeiträge wurden mit einem Tonband aufgenommen und stehen zur Verfügung. Es wurde auch ein Videofilm über die Veranstaltung von einem Temeriner gedreht. An die Kurzreferate und Lesung schloss sich eine rege Diskussion an. In der Diskussion stellte sich heraus, dass viele nicht genau wussten, was im Lager Jarek geschah. Im östlichen Ortsteil von Jarek wurden Anfang 1945 auch Ungarn aus Tschurug, Titel, Moschorin und anderen Orten interniert. Deshalb sind auch die Ungarn an der Gedenkstätte in Jarek interessiert.
Was war bei den Lesungen interessant? Die Zuhörer waren neugierig, etwas über das Leben im Lager zu erfahren. Auch die Erklärung des Historikers Prof. Končar, die Vertreibung sei ein Unrecht gewesen, weil man unschuldige Menschen für die Untaten anderer bestrafte, war für viele neu. Eine kollektive Schuld eines Volkes wurde als Unrecht abgelehnt. Es meldete sich auch ein Herr Adolf Schiffler und erzählte, als Kind auch ihm Lager Jarek gewesen zu sein. Man redete über die Lagerkinderheime und die Verschleppung elternloser Kinder in andere Heime außerhalb des Lagers, wo sie von ihrem Volk entfremdet und zur Adoption freigegeben wurden. Herr Dragan Kodja, Mitglied der Demokratischen Partei Serbiens und Einwohner von Jarek, fragte, warum keine Lesung in Jarek abgehalten wurde. Ich antwortete, dass man uns davon abgeraten hatte. Er ermunterte uns, ein Gesuch an die Ortsgemeinschaft Jarek zu richten und einen geeigneten Raum für eine Lesung zu verlangen. Das habe ich auch umgehend getan und einen Brief an die Ortsgemeinschaft geschrieben und am Montag persönlich im Gemeindehaus abgegeben. Später erfuhr ich, dass neben Herrn Kodja der Ortsvorsitzende seiner Demokratischen Partei saß, der aber selbst keine Fragen stellte.
Es meldete sich auch Herr Goran Rodić, Oberrichter in Novi Sad, der mir erzählte, dass er zwar früh gemerkt hatte, dass er in Sachen Ordentlichkeit und Fleiß etwas anders war als seine serbischen Freunde, aber es bis zu seinem 18. Lebensjahr nicht erklären konnte. Da erfuhr er zum ersten Mal, dass seine Mutter Deutsche war, die als Kind mit ihrer Schwester und ihrer verwitweten Mutter, also Gorans Großmutter, im Lager Rudolfsgnad war. Ihnen gelang die Flucht. Nach der Entdeckung der Flucht sollten sie zurück ins Lager gebracht werden, wo die Großmutter eine harte Strafe erwartete. Die Rettung kam durch die Entscheidung der Großmutter, einen Serben zu heiraten. “Als ich zum Richter berufen wurde musste ich ein Formular ausfüllen. Auf die Frage welcher Nationalität ich angehöre schrieb ich Deutsch-Serbe. Man bestellte mich ein und sagte, das ginge nicht, ich müsste mich für eine Nationalität entscheiden, weil man es nicht in den Computer eingeben könne. Ich blieb aber dabei und sagte ich könne mich einfach nicht für eine Seite entscheiden.” Tage später trafen wir uns zu einem Gespräch und besuchten seine Mutter, die inzwischen eine pensionierte Lehrerin geworden war, zu Hause. Ich erfuhr viele Details über die Politik der Parteien in Jarek, über ihre Wandlungsfähigkeit und Opportunismus.
Über die Lesung in Temerin wurde in der ungarischen Tageszeitung Magyar Szó und im ungarischen Rundfunk in Novi Sad ausführlich berichtet. Die serbische Tageszeitung DNEVNIK wollte auch einen Bericht zum Thema Gedenkstätte Jarek bringen.
Ich besuchte auch den orthodoxen Pfarrer in der Orthodoxen Kirche. Ich traf ihn alleine an. Ich erzählte ihm unser Anliegen, die Gedenkstätte auf dem orthodoxen Friedhof errichten zu wollen und fragte ihn nach seiner Meinung. Zunächst wich er aus und verwies darauf, dass der Friedhof der Gemeinde und nicht der Kirche gehöre. Ich setzte unbeirrt fort: “Wir sind doch alle Christen in der Hand Gottes, egal ob orthodox, katholisch oder evangelisch. Wenn man Sie fragen würde, ob Sie unser Anliegen unterstützen, was würden Sie als orthodoxer Pfarrer von Jarek antworten?” Er dachte ein wenig nach und antwortete feierlich: “Bruder Stefan (Stevane, brate……) als Christ bin ich, unter vier Augen, ihrer Meinung, aber öffentlich würde ich mich nicht bekennen und auf die Zuständigkeit der Ortsgemeinschaft verweisen. Ich habe noch drei Jahre bis zu meiner Pensionierung und das möchte ich nicht gefährden.”

Ich wollte Näheres über die Massengräber erfahren und ging in ein Haus, das auf dem ehemaligen evangelischen Friedhof steht. Dort wohnt eine slowakische Familie namens Valihora. Die Leute luden mich zum Kaffee ein und erzählten mir ihre Geschichte. Er arbeitete in Österreich und hat über einen Arbeitskollegen aus Jarek erfahren, dass es in Jarek Baugrundstücke gibt und griff 1974 zu. Erst als sein Haus fertig war, erfuhr er, dass sein Haus auf einem Friedhof steht und er war sehr froh, als man ihm sagte, dass sein Grundstück früher die Friedhofseinfahrt gewesen ist und sich keine Gräber auf seinem Grundstück befanden. Er konnte sich nur an Weideland in der Umgebung erinnern und nannte mir ungefähr den Standort, wo die Massengräber sein müssten.
Telefonisch habe ich mit dem Gemeindesekretär von Jarek, Herrn Mrdža, gesprochen. Er meinte, es wird schwer sein, einen geeigneten Raum zu finden, da ich ja nur noch eine Woche im Lande sei. Ich wies auf den Raum in der Galerie in Temerin hin, da ja Temerin und Jarek praktisch zusammengewachsen waren. Bei gutem Willen wäre es möglich, dort eine Lesung zu halten.
Der Vorsitzende der Ortsgemeinschaft, Herr Mandić, hat mir am Telefon gesagt, sie würden jetzt alle anstehenden Fragen für die nächste Sitzung sammeln und dann entscheiden. Spätestens da wusste ich, dass es eine Lesung während meines verbliebenen Aufenthaltes nicht geben werde.

Die Buchbesprechung vom 11. September in Temerin wurde in der ungarischen Zeitung Magyar Szó (Ungarisches Wort) kommentiert, mit der Überschrift Die Geschichte und falsche Illusionen. Ich habe den Zeitungsartikel, wie folgt, übersetzt:

Die Geschichte und falsche Illusionen

Die Temeriner Buchbesprechung über das Jareker Konzentrationslager

Bei ziemlich lebhaftem Interesse stellte kürzlich in Temerin Stefan Barth (1937) - in Futog geboren und Ingenieur aus Deutschland - sein serbisches Buch vor. Unter dem Titel Ein Junge aus der Nachbarschaft, 2005-2006 in serbischer Sprache erschienen, eine Lebensgeschichte, in der der Verfasser seine idyllische Kindheit beschreibt, die mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges abrupt endet. Barth kommt am 4. Dezember 1944 mit der ganzen Familie in das Konzentrationslager Jarek. Das Buch ist gleichermaßen ein Zeugnis von damals, aber auch eine Lektüre der Familiengeschichte, geprägt durch die schrecklichen Erlebnisse und Beweis dafür, wie das Leben im Lager ablief. Wie beim überwiegend ungarischen Publikum, so bindet auch ein deutsches Gefühl eine unerklärliche Beziehung an die Heimat. Gerade das war es, was ihn in den neunziger Jahren dazu bewog, humanitäre Hilfe in unsere Gegend zu schicken, bestärkte ihn aber auch in seiner Absicht, dass das Andenken an die unschuldigen Opfer vor dem Vergessen bewahrt werden muss. In ihrem Namen wurden das Buch und der Gedanke geboren, in Jarek ein Denkmal zu errichten, als Andenken an mehrere Tausend deutsche Opfer, und diesen Wunsch an die dortige Ortsgemeinschaft zu richten. Als sich herausstellte, dass die Ortsgemeinschaft für diese Frage nicht zuständig war, hat sich der Gemeinderat damit befasst, wobei die serbischen Gemeinderäte (unabhängig von der Parteizugehörigkeit) die Initiative beinahe einstimmig abgelehnt haben, während die ungarischen Gemeinderäte dafür gestimmt haben. Der Verfasser wollte am liebsten in Jarek eine Buchbesprechung machen, doch die Organisatoren hatten erfahren, dass man sie dort nicht herzlich empfangen würde, so dass das benachbarte Temerin einsprang.
Er schrieb vom Lager Jarek seine Erinnerungen auf und vielleicht würde eine Buchpräsentation, ähnlich der in Temerin, dabei helfen, die falsche Illusion zu tilgen – wie Barth erklärte – dass während des Zweiten Weltkrieges die Anhänger der Siegerseite auf diesem Gebiet keine Grausamkeiten begangen haben. Die Geschehnisse muss man aufarbeiten, weil sie sich sonst wiederholen könnten. Es wissen nur wenige, dass sich zu jener Zeit vierzig Lager in der Wojwodina befanden, darunter auch das Lager Jarek, wo man alte Menschen, Kinder und Mütter mit Kleinkindern unterbrachte. Von der Hauptgasse aus gerechnet hatte man auf einer Seite die Deutschen und auf der anderen Seite die Ungarn aus Tschurug, Zabalj und Moschorin untergebracht. Sie wissen auch nicht die Zahl der dort umgekommenen Menschen, aber nach Ansicht von Barth und seiner vertriebenen Deutschen wird die Zahl der Opfer in Jarek auf rund 6.000 Tote beziffert.
Der Leiter des Abends Csorba Béla erforscht gegenwärtig die Anzahl ungarischer Opfer. Nach sechs Jahrzehnten sollte man sich nicht auf Treffen stützen müssen, sondern auf Archivdokumente, die sich uns öffnen.
Bei der Buchpräsentation hat die Journalistin Nadežda Radović – die sich in mehreren Büchern mit den Deutschen der Wojwodina befasst hat –gesagt, dass sie sich als Angehörige der serbischen Nation dafür schäme, was ihr Volk dem anderen angetan hat.
Der Historiker Ranko Končar stellte fest, die Geschichte habe schon oft bewiesen, dass man ein Volk, wegen der Schuld einzelner Nationalangehörigen, nicht kollektiv schuldig sprechen kann, was im Falle der Deutschen geschehen sei.
Ende des Zeitungsberichts.

Stefan Barth

2009-11-21