Stefan Barth: Lesung in Betschej

Stefan Barth (heute Erlangen) stellt sein Buch in der Vojvodina vor

Ziel der Reise nach Serbien vom 4. bis 21 September 2009 war auch diesmal Aufklärungsarbeit über die Ereignisse in Jugoslawien nach Ende des Zweiten Weltkrieges und über die zivilen Opfer der deutschen Bevölkerung in vielen, von der neuen kommunistischen Machthabern, errichteten Lagern zu leisten. Der unmittelbare Anlass war der Streit und Tauziehen über den Standort einer Gedenkstätte für die Lageropfer in Jarek. Die Donauschwaben möchten die Gedenkstätte auf dem örtlichen orthodoxen Friedhof errichten und nicht auf dem ursprünglich vorgeschlagenen Ort, der früher zur Herstellung von Lehmziegeln diente, in dessen Vertiefungen sich Regenwasser sammelte, Schilf wuchs, Unrat und Alteisen gelagert wurde, schwer zugänglich ist und für die Infrastruktur (Straße, Parkplätze, Wasserleitung) viel finanzielle Mittel benötigt werden. Außerdem kann heute noch keiner sagen wie dieses Gelände später urbanistisch genutzt werden soll. Bei der Abstimmung im Gemeinderat über den Standort der Gedenkstätte wurde die Ungarische Koalition, die mit unserem Vorschlag einverstanden war, von den Radikalen und Demokraten überstimmt. Die ungarische Tageszeitung Magyar Szó berichtete in einem Interview mit dem Temeriner Bürgermeister András Gusztony darüber.
Die Kolonisten, die jetzt in Jarek leben, sind nach der Auflösung des Lagers im April 1946 gekommen und hatten mit dem Lager nichts zu tun. Einziger Vorwurf, den man der örtlichen Verwaltung machen kann: Sie hat die Zerstörung des deutschen Friedhofes und der Massengräber nicht verhindert. Auf dem ehemaligen evangelischen Friedhof stehen jetzt Wohnhäuser.
Es wurden zwei Lesungen zum Buch “Ein Junge aus der Nachbarschaft” von Stefan Barth, als Lebensbericht eines Donauschwaben, der als Kind im Lager Jarek war, durchgeführt.
Die Lesung in Betschej fand am 08. September 2009 im Lesesaal der örtlichen Bibliothek statt. Im Vorgespräch, das in einer herzlichen Atmosphäre stattfand, nahmen teil: Die ehemalige ungarische Parlamentsabgeordnete und Frauenrechtlerin Juliana Teleki, die Bibliothekarin Maria, die Journalistin und Lektorin der serbischen Ausgabe Nadežda Radović, der Historiker Prof. Dr. Ranko Končar und ich als Autor. Dieselben Personen waren auch auf dem Podium, wobei die Bibliothekarin die Gesprächleitung hatte.
Das Publikum im Saal bestand aus Ungarn und Serben. Die erste Stuhlreihe blieb leer, in der zweiten Stuhlreihe saß ein gut genährtes Ehepaar. Die Frau lümmelte sich mit dem rechten Ellebogen auf einen Stuhl hinter ihr und sah herausfordernd zum Podium. Ihr Mann saß halb liegend auf dem Stuhl und wechselte zwischendurch seine Körperposition indem er sich mit beiden Armen auf den Vorderstuhl lümmelte.
Als ich anfing zu sprechen unterbrach mich der Mann mit den Worten:
“Warum habt ihr uns am 6. April 1941 überfallen?”
Ich antwortet ihm: “Ich hab sie nicht überfallen, da ich zu jener Zeit 4 Jahre alt war und in Futok, also in Jugoslawien, lebte.”
Als ich mit meinen Ausführungen fortfuhr viel mir die Frau zwischendurch ins Wort. Ich ließ sie ausreden und fuhr dann fort. Schließlich fragte ich sie, ob sie ein Koreferat zur Lesung halten wolle. Sie lehnte ab. “Warum habt ihr uns bombardiert?”, fiel sie mir ins Wort. “Das war eine deutsche Beteiligung im Rahmen der NATO”, antwortete ich. Eigentlich wollte ich ihr sagen: “Das müssen sie mit den Kroaten, den Muslimen in Bosnien und Albanern im Kosovo diskutieren und nicht mit mir.” Ich hielt mich aber zurück.
Als ich von den vielen Gedenkstätten des Naziterrors in Deutschland sprach und von der Aktion Sühnezeichen und von echter Reue der Deutschen berichtete, als sie über die Verbrechen des Naziterrors erfahren haben, sagte die Frau: “Jetzt könnt ihr wieder bereuen!” Damit meinte sie die Luftschläge der NATO 1999 im Kosovo und in Großstädten Serbiens.
Prof. Končar beruhigte die Lage indem er leise sprach und so die Aufmerksamkeit auf sich zog. Er sprach davon, dass es keine kollektive Schuld gibt, dass das deutsche Volk nicht kollektiv verurteilt werden kann. Schuldig sind Täter, die zur Verantwortung gezogen werden müssen. Er ging auf die humanitäre Hilfe ein, die ich während der kriegerischen Auseinandersetzung und Bombardements für das >Klinik Zentrum in Novi Sad, für das Heim für behinderte Kinder und Jugendliche, das Rote Kreuz Vojvodina und für das Novisader humanitäre Zentrum (NSHC) geleistet habe.
Frau Radović sprach von den vielen unschuldigen zivilen Opfern zum Ende des Zweiten Weltkrieges und erwähnte dabei auch die Massaker von Bleiburg, wo die jugoslawische Volksbefreiungsarmee eine Reihe von Kriegsverbrechen an kroatischen und slowenischen Truppen begangen hat. Frau Teleki saß mit am Podium, sagte aber nur einleitend einige Sätze und schwieg während der Vorträge. Ich führte das Schweigen auf ihre schwachen Serbischkenntnisse zurück, weil ich vorher gehört habe, dass sie sonst im Kampf um Frauenrechte sehr aktiv ist und sich wehren kann. Am Schluss der Lesung kamen Besucher zum Podium, begrüßten uns und kauften Bücher.
Der Bibliothekarin war die Gesprächleitung zeitweilig entglitten, weil sie, wie sie später sagte, von den zwei offensichtlichen Schülern des Demagogen Šešel überrumpelt wurde. Sie schrieb am nächsten Tag einen Brief per E-Mail an Frau Radović, den ich für beachtenswert halte, weil er unsere Bemühungen in ein anderes Licht stellt.

Liebe Nadežda,

entschuldigen Sie, ich komm nicht umhin meine Gefühle mit Ihnen zu teilen. Ich konnte die ganze Nacht kein Auge zudrücken und konnte noch nicht zu mir kommen. Was geschieht in den Köpfen der Menschen, die nicht aus ihrem Rahmen treten können? Sie leben hartnäckig ausschließlich, nur mit ihrer Wahrheit, in der Vergangenheit und von der Vergangenheit, eingelullt in ihre Mythen. Die Mehrheit des Publikums war unangenehm berührt. Wo bleibt unsere Seele (wenn wir sie überhaupt haben). Also, der Klügere soll nachgeben, damit er nicht umkommt? Wie lange noch sollen Opfer die Schuldigen sein und die Last der Schuld tragen?
Ich habe mir so gewünscht, dass sich Stefan wohl fühlt in unserer Mitte, als wäre er zu Hause, was er ja auch einigermaßen ist. Jeder von uns trägt in sich einen Schmerz aus der nahen oder entfernten Vergangenheit. Ist es so schwer den Schmerz anderer, so wie seinen eigenen zu spüren? Während ich das Buch las, war er mir nahe wie ein Verwandter. Nicht nur wegen der Leiden, die er durchgemacht und überwunden hatte, sondern auch durch die Art und Weise wie er seine Wunden geheilt und ausgeheilt hat. Er war doch auch ein Kind, als das Übel über ihn hereinbrach. Trotzdem hat er seine Leid geplagte Seele nicht irgendwo unterwegs verloren und ist nachtragend geworden, sondern hat sorgfältig und geduldig einen Menschen aus sich geformt, der sich an das Böse erinnert, aber nicht mit Bösem, sondern mit Humanität und geistiger und intellektueller Größe erwidert. Er merkt sich und erinnert sich an jene Menschen, die ihnen die Hand der Rettung in der Not in kritischen Augenblicken gereicht haben. Bis auf den heutigen Tag erhält und pflegt er die Beziehungen zu seinen Schulfreunden und Freunden aus dieser schweren Zeit und spricht die Sprachen, die er in seiner ersten Heimat gelernt hatte.
Nach dem gestrigen Ereignis, das ich gar nicht benennen kann, fühle ich mich, wie nach einer Niederlage, niedergeschlagen. Ich gebe zu, dass ich überrumpelt war. Ich blieb ohne Worte und Reaktion. Ich finde mich in Situationen wie “der Angriff ist die beste Verteidigung” nicht zurecht. In diesem Falle ein Angriff auf einen Menschen, der ein Opfer war und die Abwehr von einem Menschen, der auch heute noch ein Opfer fremder Schuld ist. Es ist traurig, dass wir weder die Lust, noch Geduld und das Gehör haben aufeinander zu hören. Ich habe mir eine schöne, angenehme Geselligkeit vorgestellt und gewünscht, schmerzliche und angenehme Erinnerungen hervorzurufen, die früheren Ereignisse aus heutiger Sicht zu betrachten und zu analysieren, so wie es die Geschichtswissenschaften aus der Distanz mehrerer Jahrzehnte sehen und wie es die einzelnen Menschen aus ihrer Lebenserfahrung betrachten. Es war eine Gelegenheit, dass die Menschen etwas von unserem hässlichen Teil unserer Vergangenheit erfahren oder vielleicht lernen, der hauptsächlich von der Öffentlichkeit geheim gehalten wurde (und noch immer geheim gehalten wird).
Ich freue mich, dass ich Sie und Stefan kennengelernt habe. Prof. Končar kenne ich von früher. Ich freue mich über Menschen, mit denen ich auf einer Wellenlänge bin. Wir sind zwar nicht in der Nachbarschaft, aber verwandte Seelen können einander nahe sein auch wenn sie räumlich entfernt sind.
Viele Grüße
Maria

Über die Lesung in Betschej wurde in zwei serbischen Zeitungen berichtet, ohne näher auf die zwei Störenfriede einzugehen.

Auszug aus dem Betschejer Magazin, mit der Überschrift

Ein Junge aus der Nachbarschaft:
Das Buch vorstellend beschrieb der Autor (geboren 1937 in Futog) seine Kindheit, die er an der Donau verbracht hat, als einen schönen Lebensabschnitt, bis man ihn mit seiner Familie in das Lager getrieben hatte. Aus der Erinnerung an diese dramatischen Augenblicke schreibt er in seinem Buch, aus dem ein Abschnitt vorgelesen wurde, der genug einprägsam war, um den Schmerz und die Leiden aller, die dieses Schicksal getroffen hatte, zu spüren.
Indem sie über das Buch sprach, sagte Nadežda Radović: “Stefan Barth ist ein Mensch, der keinen Hass in sich trägt und der nach Menschen sucht, die ihm und seiner Familie in jenen schrecklichen Jahren etwas Gutes taten. Er ist ein Mensch der Versöhnung, der diese gute Fackel, die wir alle brauchen, trägt. Es gibt die Wahrheit jener, die um ihre Vision der Freiheit gekämpft haben, es gibt die Wahrheit der Menschen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges besiegt waren. Solange die Schuld nicht individualisiert wird, solange der Schuldige nicht zur Verantwortung gezogen wird, solange schwebt ein Schatten über dem ganzen Volk. Wir konnten aus der deutschen Geschichte viel lernen. Ich bin überzeugt, wenn wir diese Geschichtsdiskussion rechtzeitig eröffnet hätten, so hätten die Ereignisse der neunziger Jahre nicht stattgefunden. Wir haben gelernt, was die kollektive Schuld bedeutet und wie schwer man aus dieser kollektiven Schuld wieder herauskommt. Die ganze Geschichte der kollektiven Schuld erlebt das serbische Volk, leider, jetzt. Ich denke, dass wir aus dieser Geschichte nur herauskommen können, indem wir uns und unsere Geschichte überprüfen und einige andere Fundamente setzen auf der wir die Zukunft aufbauen. Der Streit mit anderen führt zu nichts. In Bački Jarak ist man auch nach 60 Jahren nicht gewillt zu erlauben einen Richtplatz zu kennzeichnen. Das muss man überall tun, wo solche Plätze vorhanden sind.”
Über das Buch sprach auch der Historiker Ranko Končar, der sich mit der Geschichte des 20sten Jahrhunderts befasst. Er sagte, dass es für die Geschichtsforschung notwendig ist, auch diese Art von Literatur zu begleiten, weil sie hilft, die Leiden der Völker in Kriegszeiten zu begreifen, in denen die Zivilopfer die größten Opfer sind und die die Frage stellen: “Warum ist das mit uns geschehen?”

2009-11-13