Von Helmut Erwert
Weder meine Frau noch ich ahnten, was uns erwarten würde. Ohne Zögern hatten wir einer Lesereise in meine Geburtsstadt “Bela Crkva” (Weißkirchen) zugestimmt, einem Gebiet mit der historischen Bezeichnung “Banat”. Dort, in Südosteuropa, in der heutigen Vojvodina, hatte es vor sieben Jahrzehnten viele Bewohner deutscher Muttersprache in multikultureller Umgebung gegeben, - blühende Dörfer, rege kleine und größere Städte mit ungarischen, deutschen, serbischen, rumänischen Theateraufführungen, Liederabenden, Parkkonzerten und Weinkellerabenden. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht 1941, der Roten Armee und ihrer Verbündeten danach, ging diese Welt unter.
Das Ziel der Reise war die Stadt “Bela Crkva” mit der namensgebenden “weißen Kirche” (“Bela Crkva”=”Weiße Kirche”). Das katholische Gotteshaus vereinigte mehrere Tausend Gläubige unter seinem Tonnengewölbe. Heute dient es wenigen tschechischen und ungarischen Kirchgängern als Gebetsort - Foto: Helmut Erwert
Niemals in den 300 Jahren seit der Befreiung vom osmanischen Joch - vielleicht auch nie zuvor - war in der lange Zeit habsburgischen, dann königlich-jugoslawischen, dreieinhalb Jahre von der deutschen Wehrmacht okkupierten Stadt Weißkirchen-Bela Crkva die Benutzung einer der vielen Muttersprachen in der Region verboten gewesen. In den Umsturzjahren 1944-45 hob man dieses “Noch-nie” auf, der zahlreichsten Minderheit war kollektiv die öffentliche Benutzung ihrer Muttersprache unter Strafe gestellt. Vor wenigen Jahren noch wurde der jetzt dorthin reisende Referent auf offener Straße von Polizei angehalten und kontrolliert, seine Schwester beim Fotografieren einer Hausfassade des Historismus mit einem Straßenbesen fortgejagt worden.
Jetzt erneut unterwegs zu jenen Orten der Kindheit, wird ihm erst spät bewusst, dass er vielleicht zu unbedacht dieser Lesung zugesagt hatte. Er würde vor unbekanntem Publikum in einer ehemals verbotenen Sprache sprechen, würde von Empfindlichkeiten und Verletzungen auf mehreren Seiten erzählen. Die jahrzehntelange, politisch verordnete Kollektiv-Verurteilung der eigenen, größten Minderheit der Stadt könnte wieder aufleben. Wird es Buh-Rufe geben oder Stimmen zu versöhnender Vergangenheitsbewältigung? Kein Wunder, dass ihn ein leichtes Krimi-Kribbeln überkam.
Der “Literarische Abend” mit der Lesung fand im neu restaurierten “Haus der Heimat” statt, einem stattlichen Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, einst Gaststätte “Zum Grünen Kranz”. Der Psychologe und Schwimmtrainer Miki de Deo Mihailowitsch hatte es vor dem Verfall gerettet, mit Hilfe einer serbisch-deutschen Stiftung restauriert und zu einer Begegnungsstätte gemacht. Hier solle, sagt der visionäre Eigenbrödler Miki, die vor 70 Jahren vertriebene Hälfte der Stadt bzw. ihre Nachkommen wieder “Heimat” spüren können, andere gegenwärtige städtische Minderheiten ihre Feste feiern dürfen. Viel gedanklicher Schutt, viel einstmals aufoktroyierte “politische Korrektheit” aus vergangenen kommunistischen Jahren seien auszuräumen. Ein künftiges Archiv, eine Bibliothek, aktuelle Veranstaltungen - Lesungen, Vorträge, Ausstellungen - sollen bezeugen, dass hier eine europaweit beachtete mitteleuropäische Zivilisation und Weinbaukultur ihr Zuhause hatte. Miki schwebt nichts anderes vor, als eine “Re-Integration” der in den Balkan abgedrifteten Stadt in ihre alten kulturellen und zivilisatorischen Traditionen. Eines Tages vielleicht könnte die ganze Provinz Vojvodina eine Eingliederung in die Europäische Union erleben.
Ein Damenchor im “Haus der Heimat” sang einleitend Lieder in verschiedenen Sprachen, u. a. von Schubert - Foto: Helmut Erwert
In fortgeschrittenem Alter vermag ein Mensch auf weite Zeiträume zurückzublicken. Die Gnade eines längeren Lebens bescherte auch dem zur Lesung Eingeladenen die Erinnerung an manche Wechsel politischer Systeme, an Aufstiege und Abstürze dramatischer Lebensläufe in seiner Geburtsstadt. Manchmal scheint es ihm, als ob die Zeit in Zyklen abrollte, oder sich wie ein schwingendes Pendel bewegte, das immer wieder vom Extremen über die Mitte zurückkehrt. In manchen Augenblicken glaubt er sein Sausen zu vernehmen, kann die Rückkehr zur Mitte kaum erwarten.
Dann wieder träumt er, oben in einer Galerie zu sitzen, von dort hinunterzuschauen auf immer wieder neue Inszenierungen des ewig gleichen Dramas. Könnten die Regisseure nicht endlich die immer gleichen Handlungsmuster hinterfragen und neue zukunftsweisende Aktionsstränge erfinden? Das einst zersplitterte, gebeutelte Europa hat nach Jahrhunderten blutiger Nationalkriegen doch ein neues hoffnungsfrohes Handlungskonzept auf die Weltbühne gebracht. Wie sonst wären die riesigen Flüchtlingsströme zu erklären, die heute - wie von einem Magneten angezogen - in Richtung des friedlichen, sicheren und wohlhabenden Kontinents sich bewegen?
Der Abend der “Literarischen Lesung” brach an, der kleine Saal im Heimathaus füllte sich bis zum letzten Platz, der ungarische Pfarrer, der örtliche Präsident der tschechischen Minderheit, der Vorsitzende des deutsch-serbischen Vereins in vorderster Reihe. Ein Chor von zwanzig feierlich gekleidetenr Damen trug mehrsprachige Lieder, u. a. von Schubert, vor, der eingeladene Referent verlas seine Vita in der dortigen Landessprache, die er von seiner Kindheit her noch gut im Ohr hatte. Er stellt selbst durchlebte Lebensstationen in den Raum, unterschlägt nichts, klagt nicht an, verurteilt nicht, nennt Tatsachen: Sein Großvater, ein bescheidener Dorfschreiner, drehte aus Mangel an Aufträgen Hanfseile auf der Gasse vor seinem noch mit Schilfrohr gedeckten alten Kolonistenhause. Nie hat der Enkel erlebt, dass der Alte zu einer politischen Versammlung gegangen wäre. Dann aber wurde er mit seinen Landsleuten im Winter 1945 ins Zwangslager Knicanin (Rudolfsgnad) interniert und starb den Hungertod. Seine gebrechliche Frau folgte ihm kurz darauf ins Massengrab.
Die danach verlesenen Passagen aus dem Romanmanuskript mit dem Titel “Elli oder Die versprengte Zeit” in der einst verbotenen, jetzt sehr selten gehörten Sprache, schildern eine Welt friedlicher mulikultureller Harmonie, weiterhin Szenen individueller politischer Ohnmacht, mit Erschießungskommandos auf beiden nationalen Seiten, Flucht und kollektive Zwangsarbeit. Lautlose Stille, konzentrierte Aufmerksamkeit. Auch in der nachfolgenden Diskussion fallen Worte, die hier sieben Jahrzehnte lang offenbar keiner in den Mund zu nehmen wagte.
Einige Männer und Frauen stürmen zum Podium, umarmen den Vorleser, - endlich hätten sie öffentlich ein Stück “echte Wahrheit” erfahren. Ein alter Mann segnet den Abend. Nun getraue er sich, sein Schicksal mitzuteilen. Als Kind hatte er jenes Hungerlager Knicanin (Rudolfsgnad) überlebt, diese schmerzlichste Erfahrung seines Lebens 70 Jahre lang unausgesprochen mit sich herumgetragen.
Gibt es eine “unechte, verstörende” und eine “echte, erlösende” Wahrheit? Wer kann ermessen, was es für den Diskussionsteilnehmer bedeutet haben musste, mit einer “verstörenden” Wahrheit so lange leben zu müssen? Wie lange darf die Erinnerung an zweifelsfreie Ereignisse der Vergangenheit einer politischen Deutungshoheit geopfert werden? Ist die Freiheit des Wortes - immer wieder unterdrückt, - hier nach langer Zeit wieder möglich geworden? Wird sie über das Heimathaus hinaus in die Stadt, ins ganze Land dringen?
Welch lange Atemzüge macht die Geschichte!
2016-01-03