Die Heimatvertriebenen und die bundesdeutsche Ostpolitik ab 1968

von Dr. Georg Wildmann, Linz

Die Sprachregelung des Tito-Regimes zur Rechtfertigung des Vorgehens der Partisanenbewegung gegen die Donauschwaben bediente sich maximalistischer Formulierungen: Die Mehrzahl der Donauschwaben habe beim Abzug der deutschen Okkupanten ihre Heimat verlassen und sei abgezogen. Insgesamt aber seien sie Faschisten, Vaterlandsverräter, Kollaborateure, Volksfeinde und Kriegsverbrecher. Mit diesen Beschuldigungen wurde auch das Vorgehen gegen die in ihrer Heimat verbliebenen Donauschwaben gerechtfertigt. Bis heute gilt die “Beweislastumkehr”: Der Donauschwabe, der laut serbischen Gesetz eine Entschädigung oder Restitution beantragt, muss beweisen, dass er oder seine Eltern keine Kriegsverbrecher waren. Nach europäischer Rechtskultur gilt hingegen der Grundsatz, dass der Ankläger die Beweislast trägt.

Die gezielte Vorgangsweise der Partisanen gegen die nichtgeflüchteten Donauschwaben sowie die Opferbilanz gibt jenen Beobachtern der Vorgänge, die ihre Augen nicht vorsätzlich vor den geschichtlichen Tatsachen verschließen, die Berechtigung, von einem Völkermord zu sprechen.

Als erste Stimme nach dem Untergang des Titoregimes in der Publizistik der Vojvodina bezeichnete in ihrer Juniausgabe des Jahres 1990 die in Neusatz erscheinende Studenten¬zeitschrift Indeks die Vorgänge und Verfolgungen, denen die Vojvodina-Deutschen in den ersten Nachkriegsjahren unterworfen wurden, ausdrücklich als Genozid. Der Interview-Artikel trug die Überschrift “Genozid an den Deutschen der Vojvodina – Folterungen in den Lagern der Partisanen” und brachte einschlägige Tatsachenberichte. Das geschah einige Monate vor Beginn des Zerfalls Jugoslawiens!

Im Vorwort zu einem im Jahre 1996 in Belgrad erschienen Buch über das Schicksal der Jugoslawiendeutschen schreibt Prof. Zoran Žiletić in bemerkenswerter Offenheit: “Wenn man das nach der Lektüre der Interviews mit Franz Hutterer, Friedrich Binder, Anton Scherer und Oskar Feldtänzer durchliest, fragt man sich unwillkürlich, was da in uns 1944–1948 vorgegangen war, als wir damit einverstanden waren, dass nicht nur ein ganzes Volk vernichtet wurde, sondern dass über diese Vernichtung seit einem halben Jahrhundert eine Decke des Schweigens gebreitet wird?” (Nenad Stefanović: Jedan svet na Dunavu – Razgovori in komentari, Beograd 1997. Dt. Übersetzung: “Ein Volk an der Donau – Gespräche und Kommentare”, 1. Auflage, München 1999).

Die positive Initiative des Bonner Ministeriums für Vertriebene

Das Bonner Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte beauftragte schon im Jahre 1951 eine historische Kommission unter dem Kölner Historiker Theodor Schieder, eine “Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa” zu erarbeiten. Diese Arbeit entwickelte sich “zu einem methodisch innovativen und inhaltlich zukunftsweisenden Forschungsvorhaben, das Evakuierung, Flucht und Vertreibung von über vierzehn Millionen deutschen Staats- und Volksangehörigen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches sowie aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien in den Kontext der nationalsozialistischen Besatzungs-, Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik stellte…. Die hauptsächliche Quellengrundlage bildeten freilich ‚Erlebnisberichte’, Berichte und Aussagen von Betroffenen sowie in geringerer Zahl andere Selbstzeugnisse, wie Briefe und Tagebücher. Die Ergebnisse lagen in zehn Jahren in fünf Bänden, einige davon in Teilbänden … vor”. So berichtet es der Wiener Professor Arnold Suppan in seinem großen Werk: Hitler – Beneš – Tito, Band 1, Wien 2014, S. 47.

Professor Theodor Schieder brachte im Auftrag des Bonner Ministeriums mit Hilfe seines damaligen Assistenten Hans-Ulrich Wehler (1931-2014), 1961 den Band V: Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien heraus. Seit 1961 konnte also die Welt erfahren, was uns Donauschwaben aus Jugoslawien geschehen war.

Der Regierungsauftrag zur Aufarbeitung der Vertreibungsverbrechen

Das Deutsche Bundesarchiv in Koblenz erhielt am 16. Juli 1969 aufgrund einer Kabinettsvorlage der Koalitionsregierung Kurt Georg Kiesinger – Willy Brandt den Auftrag, das Material “über Verbrechen und Unmenschlich¬keiten, die an Deutschen im Zuge der Vertreibung begangen worden sind, zusammenzustellen und auszuwerten. Der Bericht war nach fünf Jahren Arbeit 1974 fertiggestellt, wurde aber von der Koalitionsregierung SPD-FDP unter Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher unter Verschluss gehalten, “vermutlich um die neue Ostpolitik nicht zu stören und die internationale Entspannung nicht zu belasten. Erst der Bundesminister des Innern Friedrich Zimmermann (CSU) gab den Bericht im Dezember 1982 zur wissenschaftlichen und publizistischen Benützung im Bundesarchiv frei. … Aber auch Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) veranlasste keine Veröffentlichung, sodass sich erst die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen im Jahre 1989 dazu entschloss, den Bericht zu veröffentlichen. Erstaunlich wenige Publikationen griffen seither auf diesen Bericht zurück” (Suppan S. 49). Sie trägt den Titel: Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen (Hg.): Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948. Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974. Archivalien und ausgewählte Erlebnisberichte, Bonn 1989.

Der offizielle Bericht einer deutschen Bundesregierung war also fünf Jahre (1969–1974) in Arbeit, lag dann acht Jahre (1974–1982) völlig unter Verschluss, (das ist genau die Zeit, in der Helmut Schmidt deutscher Bundeskanzler war), blieb ohne Drucklegung, konnte aber sieben Jahre hindurch (1982–1989) wissenschaftlich ausgewertet werden, und wurde erst 1989 für die breite Öffentlichkeit durch private Initiative als Schrift gedruckt und veröffentlicht. Zwanzig Jahre hindurch (1969–1989) wurde eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Vertreibung und Vertreibungsverbrechen von bundesdeutschen Regie-rungen nicht forciert, sondern restriktiv behandelt – die “Decke des Schweigens”….

Die deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge als politische Manövriermasse

Die 1970er und 1980er Jahre durfte in den Augen der bundesdeutschen Politiker das Thema Heimatvertriebene die auf Entspannung ausgerichtete internationale Politik und die deutsche Ostpolitik nicht belasten. Die ostpolitische Wende geschah 1968 auf dem Parteitag der SPD. Der Parteitag verabschiedete eine Entschließung, in der die Anerkennung der bestehenden Grenzen, insbesondere der polnischen Westgrenze bekräftigt wurde. Dieser Kurswechsel löste bei den Heimatvertriebenen in Deutschland große Bestürzung und Verbitterung aus. Die vom Kabinett Brandt-Genscher zwischen 1970 und 1973 mit Moskau, Warschau, der DDR und Prag abgeschlossenen “Ostverträge” polarisierten die westdeutsche Gesellschaft in der Frage des Verzichts auf die deutschen Ostgebiete. Besonders die Jungen aus der 1968er Bewegung unterstützten den Verzicht, aber viele der älteren Vertriebenen fühlten sich aus der “gesamtgesellschaftlichen Mitte verbannt” (Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008, S. 181). Es kam zur Radikalisierung der Vertriebenenverbände in Westdeutschland. Herbert Hupka, Schlesier, sprach davon, dass “systematisch eine zweite Vertreibung” angestrebt werde. Der in der DDR propagierte Begriff des “Revanchismus” wurde allmählich auch im Westen von allen Seiten den Vertriebenen vorgeworfen. Ihre Heimatliebe und die mehr konservative Ausrichtung ihrer Verbände rückte sie in den Bereich der Rechtslastigkeit. Von der Ostpropaganda her hörte man vom “Revanchismus der Ewiggestrigen”. Selbstverständlich hatten diese “neofaschistisch” zu sein.

Das Schwinden der Vertriebenen aus dem öffentlichen Bewusstsein wurde dadurch tatsächlich gefördert. Man verdrängte die Tatsache, dass die Vertriebenen die größten Opfer gebracht hatten. Den Donauschwaben blieb die Furcht, vergessen zu werden und als zu Unrecht Verfolgte nicht in das kollektive Gedächtnis der Zivilgesellschaft Deutschlands und Österreichs einzugehen. Beim Betrachten der Geschichtsforschung in beiden Nationen in den mehr als fünf Jahrzehnten nach Kriegsende ist man versucht, von einer “binnendeutschen Blick¬verengung” und einem kurzgeschnittenen historischen Kausalitätsdenkens zu sprechen, das sich auch in Österreich ausgebreitet hatte.

Nur als Beispiel: Hans-Ulrich Wehler bemerkt in seinem Buch Nationalitätenpolitik in Jugoslawien. Die deutsche Minderheit 1918-1978, Göttingen 1980, S. 85, das mörderische Verhalten der titoistischen Widerstandsbewegung müsse man als, “durchaus verständlichen radikalen Gegenschlag gegen alles Deutsche” werten, es sei als Reaktion auf die Unmenschlichkeiten des NS-Regimes zu verstehen. Dazu unser Landsmann Fritz Binder in seiner Entgegnung in “Der Donauschwabe” vom 28. September 1980: “War es nicht eine totale Überreaktion? War es logisch, dass hauptsächlich donauschwäbische Frauen, Kinder und Greise das büßen mussten, was das NS-Regime an Unmenschlichkeiten verbrochen hatte? Wird mit solcher Geschichtsschreibung nicht Massenmord im nachhinein gutgeheißen?”

Daraus wird ersichtlich, welches Glück es für die Donauschwaben bedeutete, dass wenigstens die “Schieder”- oder “Bonner Dokumentation” seit Anfang der 1961 vorlag. Sie veröffentlichte viele der wichtigsten Erlebnisberichte. Im Bundesarchiv Koblenz lagen insgesamt 768 Berichte über die Geschehnisse in jugoslawischen Lagern vor. An sich war das Grauen der Vernichtungslager Jugoslawiens seit 1961 veröffentlicht. Den Historikern lagen die Dinge offen und den donauschwäbischen Intellektuellen hätte es genug Anlass gegeben, sich intensiv mit ihrer Geschichte zu befassen und um die Deutungshoheit zu ringen. Der in späterer Zeit hochangesehene Politiker Helmut Schmidt war kein ausgesprochener Kenner der Südostvölker. Wir Heimatvertriebenen waren für ihn im Falle der politischen Güterabwägung eine Manövriermasse, die er auf das Abstellgeleise verschob.

(Zur Aufarbeitung der donauschwäbischen Geschichte ab 1980 durch die “jüngere Generation” siehe: Georg Wildmann, Donauschwäbische Geschichte, Band IV, S. 631-636)

2015-12-02