Schwerer Beginn für die Ungarndeutschen in der Ostzone Deutschlands

Dieser Aufsatz von Emil Magvas erschien im “Deutschen Kalender 2013 – Jahrbuch der Ungarndeutschen” (S. 280-285), der von der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen in Budapest herausgegeben wird, unter dem Titel “Schwerer Beginn – aus den Anfangsjahren der heimatvertriebenen Ungarndeutschen in der Ostzone Deutschlands”. Mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors erscheint er nun auch hier auf der Internetseite der Donauschwäbischen Kulturstiftung. Die Kontaktdaten der Redaktion des Deutschen Kalenders sowie der ebenfalls in Budapest produzierten Neuen Zeitung lauten:
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Internet: www.neue-zeitung.hu

Auf einem Klassenfoto aus dem Jahr 1949 sind drei Dutzend Jungen einer Kleinstadt in Sachsen zu sehen. Nur Knaben sind abgebildet, denn Mädchen und Jungen wurden damals noch, wenn es möglich war, in getrennten Schulen unterrichtet. Ein Drittel der Schüler waren Umsiedlerkinder. Die meisten kamen aus Schlesien und dem Sudetenland, ein paar auch aus Ungarn. In der SBZ, der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR, wurden Flüchtlinge und Vertriebene als Umsiedler bezeichnet. Ab etwa 1950 wurde auch diese Bezeichnung nicht mehr verwendet.

Die Schüler aus den deutschen Ostgebieten und Böhmen konnten alle gut deutsch, wenn auch mundartlich gefärbt. Viele waren in der Zeit der Flucht oder Vertreibung von Schulausfällen betroffen. Manche wurden deshalb ein Jahr zurückgestuft. Der Unterricht machte ihnen aber keine besonderen Probleme. Anders sah es bei den Kindern aus Ungarn aus; nur wenige hatten in der ungarischen Schule auch etwas deutsch gelernt. Ihr deutscher Dialekt, den sie aus Ungarn mitgebracht hatten, wurde nicht verstanden und war für die Schule kaum zu gebrauchen. Sie wurden deshalb zunächst in Vorbereitungsklassen zusammengefasst und je nach dem Lernfortschritt Normalklassen zugewiesen, oft ebenfalls mit einem Jahr Zurückstellung. Ihre Startchancen in der deutschen Schule waren eindeutig ungünstiger als die der anderen Schüler. Das äußerte sich in den ersten Schuljahren bei ihren schlechteren Schulnoten. Aber auch diese Kinder erreichten, nachdem sie die erforderlichen Schuljahre durchlaufen hatten, das Schulziel und konnten meist einen Beruf erlernen.

Schlechter erging es den Halbwüchsigen. Ihre Schulbildung aus Ungarn war für eine Berufsbildung in einem Handwerk oder Gewerbe in Deutschland nicht ausreichend. Ihr Erwerbsleben mussten sie mit Hilfstätigkeiten beginnen und nur wenige konnten im späteren Leben eine Qualifizierung nachholen. Die älteren Männer, die bereits Familienväter waren, konnten in den seltensten Fällen eine berufliche Ausbildung auf dem Papier nachweisen. Als Erwerbstätige in der Landwirtschaft hatten sie zwar vieles gelernt, konnten aber davon auf ihren neuen Arbeitsstätten im Uranbergbau, im Baugewerbe oder in der Industrie nur weniges verwenden. Sie mussten deshalb meist Hilfs- und Anlernarbeiten verrichten. Natürlich gab es auch unter ihnen besonders Begabte, die sich mit viel Ausdauer und Willen im Laufe der Jahre beruflich emporarbeiten konnten.

Fast alle ungarndeutschen Vertriebenen durchliefen das Umsiedlerlager “Graue Kaserne” in Pirna/Elbe. Im ersten Halbjahr 1948 kam Woche für Woche durchschnittlich ein Eisenbahntransport mit jeweils etwa 1500 aus Ungarn Ausgewiesenen hier an. Das Lager in Pirna war nicht für einen längeren Aufenthalt vorgesehen. Deshalb wurden die Umsiedler nach wenigen Tagen, in denen ihre Registrierung und die gesundheitliche Untersuchung erfolgten, ihrem neuen Wohnort zugewiesen. Die Männer wurden im Hinblick auf ihre Verwendbarkeit in den neu erschlossenen Uranerzgruben im sächsischen Erzgebirge untersucht. Wurde ein Familienvater oder ein junger Bursche als bergbautauglich befunden, so wurde er zur Grubenarbeit zwangsverpflichtet und in die Bergbaugebiete transportiert. Seine Familie wurde in benachbarten Landkreisen untergebracht. Ausnahmen wurden dann gemacht, wenn mehrere kleine Kinder oder Ältere zu einer Familie gehörten. Diese Familien wurden dann bergbaufreien Landkreisen zugewiesen. Auf diese Weise gelangten gut ein Drittel aller nach Sachsen verbrachten Ungarndeutschen in Landkreise mit Uranerzbergbau. Auf verwandtschaftliche Beziehungen oder gar auf Dorfgemeinschaften wurde bei dieser räumlichen Verteilung keine Rücksicht genommen.

Viele der in die Ostzone Ausgesiedelten nutzten die nächst beste Gelegenheit, um über die noch nicht so streng bewachte Zonengrenze nach Bayern zu gelangen. Mit Hilfe eines Ortskundigen, das Allernötigste in einem Koffer und Rucksack gepackt, wurde nachts die grüne Grenze überschritten. Nach deren Befestigung sind die meisten bis zum Mauerbau im August 1961 über West-Berlin “abgehauen”. Mit “Abhauen” wurde im Volksmund das von offizieller Seite als Republikflucht benannte Verlassen der DDR ohne Genehmigung bezeichnet. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ein großer Teil der fast 50 000 in die Sowjetzone vertriebenen Ungarndeutschen die DDR verlassen.

Kischludt; Rudolf Koltai, Josef Rezgo, Michael Magvas
Von Kischludt nach Falkenstein (Sachsen) 1948: Lorenz Lovasi, Rudolf Koltai, Josef Rezgo, Michael Magvas

Die nach dem Westen Deutschlands Gegangenen mussten oft einen längeren Aufenthalt in einem der Vertriebenenlager in Kauf nehmen, wenn sie nicht bei Verwandten, die aus Ungarn nach Bayern, Württemberg oder Hessen verbracht worden waren, Unterschlupf fanden. Zahlreiche dieser Heimatlosen haben sich aber nicht lange in Westdeutschland aufgehalten, sondern sind nach Amerika ausgewandert. Verwandte, die schon vor dem Krieg dorthin gelangt waren, oder kirchliche Hilfsorganisationen halfen ihnen dabei. So ergab sich, dass ungarndeutsche Vertriebene beziehungsweise deren Nachkommen heute in aller Welt zu finden sind.

Die Wohnverhältnisse waren beengt. Viele Wohnungen in den größeren Städten waren im Krieg zerbombt worden. Menschen aus den Großstädten hatte man in die kleineren Orte evakuiert. Leerstehende Wohnungen in größerer Zahl gab es nicht. Jetzt kamen noch Tausende Umsiedler und zuletzt auch noch solche aus Ungarn dazu. Alle Räumlichkeiten, die halbwegs dazu geeignet waren, wurden für Wohnzwecke genutzt. Allerdings gab es in den Städten Wasserleitungen und fließendes Wasser, wenn es nicht gerade abgedreht war, und teilweise auch Kanalisation. Gekocht wurde oft mit Stadtgas, das allerdings auch nicht jederzeit zur Verfügung stand. Es gab überall elektrischen Strom, wenn nicht gerade Stromsperre war, was regelmäßig vorkam. Diese technische Infrastruktur eines entwickelten Industrielandes, die das alltägliche Leben erleichterte, war für die meisten Menschen aus Ungarn neu und gewöhnungsbedürftig, aber auch angenehm. Manche unliebsame Ereignisse oder gar schlimme Unfälle ereigneten sich, wenn vergessen wurde, den Wasserhahn oder den Gashahn zuzudrehen.

Die räumliche Enge in den Wohnungen war bedrückend. Wenn in der Heimat das eigene Haus auch noch so klein war, einen Hof und einen Garten gab es doch, Viehzeug natürlich auch. Und jetzt lebte man in städtischen Wohnräumen, meist mit anderen Familien in einem Haus zusammen. Reibereien und Streitigkeiten waren nicht zu vermeiden. Der Drang nach eigenen vier Wänden war groß. Baumöglichkeiten gab es so gut wie keine. Aber wenn die Familie vollständig war und zusammenhielt, ergaben sich im Laufe der Jahre in den kleineren Orten manchmal Möglichkeiten, ein eigenes, meist sanierungsbedürftiges Haus zu erwerben und es in harter Eigenarbeit den Bedürfnissen anzupassen. Wo die Möglichkeit bestand, wurde ein Kleingarten gepachtet und neben dem üblichen Gemüse auch versucht, den so sehr vermissten Paprika anzupflanzen.

Die gewohnte bäuerliche Arbeit wurde von der ungewohnten Arbeit in Bergbau und Industrie abgelöst. Die Arbeit im Uranbergbau, bei der so genannten Wismut, war schwer und nicht ungefährlich und für die allermeisten auch ungewohnt. Welche Anpassungsleistung wurde von Menschen verlangt, die noch im Herbst 1947 die Saat auf eigenen Feldern ausgebracht hatten und wenige Monate später in Deutschland als Bergarbeiter in die Grube einfahren mussten! Da die bergmännischen Hilfsmittel und Geräte in den Anfangsjahren noch ein niedriges technisches Niveau hatten, dominierte harte körperliche Arbeit unter die Gesundheit gefährdenden Bedingungen. Häufig ereigneten sich Arbeitsunfälle. Von Glück konnten die Wenigen reden, die eine Beschäftigung über Tage etwa als Schmied oder Schlosser erhielten. Aber auch die Trennung von der Familie und die Unterbringung in Massenquartieren waren für die Beschäftigten sehr belastend. Schätzungsweise haben insgesamt 4000 bis 5000 vertriebene Ungarndeutsche über eine kürzere oder eine längere Zeit ihre Arbeitskraft und Gesundheit im sächsischen Uranerzbergbau einsetzen müssen.

Ein vertriebener Schwabe, der auch zwangsweise Bergmann geworden war, schrieb 1948 in einem Brief folgende Gedichtzeilen nach Hause:

Wer nämlich jetzt lässt die Flügel hängen,
hält auch keine schweren Prüfungen stand.
Daß ich nicht ´mal neugierig auf Getreidepreise war,
ist wohl verständlich,
denn aus dem Bauern wurde ein Proletar.

Nachdem die Zwangsverpflichtungen, die höchstens zwei Jahre gültig waren, ausliefen, versuchten deshalb viele, in anderen Branchen Arbeit zu finden, was dann mit der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung auch zunehmend gelang. So fanden manche Ungarndeutsche an ihrem Wohnort oder dessen Nähe in Metallbetrieben, Textilfabriken oder im Baugewerbe eine Arbeit. Somit haben nur sehr wenige ihr Berufsleben bei der Wismut beendet.

Am meisten fielen die “Ungarn” durch die Tracht ihrer Frauen auf. Tracht wurde in den industrialisierten Gegenden Deutschlands schon lange nicht mehr getragen. Die jüngeren Frauen legten sie recht bald ab, wenn auch das Kopftuch noch lange sichtbar war. Die Älteren brauchten eine längere Zeit, ihre von Kindesbeinen an gewohnte Kleidung abzulegen. Einige besonders geschickte Frauen schneiderten für sich und andere aus dem Stoff der weiten Röcke ganz passable “städtische” Kleider. Da es noch lange außer Lebensmittelkarten auch Bezugsscheine für Textilien und Schuhe gab, konnten manchmal auch Stoffe auf diese Scheine gekauft werden. Die Familien der Wismut-Kumpel waren hinsichtlich der Versorgung mit den alltäglichen Dingen besser gestellt.

In der neuen Umgebung waren die Ankömmlinge nicht willkommen. Sie waren fremd und fühlten sich fremd. In der ersten Zeit besuchten sich die Landsleute, wenn sie aus dem gleichen oder dem Nachbardorf stammten, gegenseitig recht häufig. Neuigkeiten wurden ausgetauscht, über den Verbleib des einen oder anderen Bekannten wurde informiert, die Aussichten auf baldige Rückkehr in die Heimat wurden erörtert, Möglichkeiten eines Wechsels in den Westen besprochen. Sonntags Nachmittag trafen sich die “Ungarn” in einem größeren Kreis in einer Gaststätte. Ganze Familien waren hier versammelt. Die Kinder bekamen Fassbrause, die Frauen tranken Malzbier und die Männer das helle Bier. Hier wurden die neuen Erfahrungen ausgetauscht und auch auf diese Weise ganz allmählich die Phase des Eingewöhnens in eine völlig neue Lebenssituation bewältigt. Städtische Lebensweisen mussten notgedrungen angenommen werden und verdrängten nach und nach die aus der Heimat mitgebrachten Bräuche und Überlieferungen.

Radeberg 1959 alt=”Radeberg 1959” width=”407” height=”353” Frauen aus Kischludt in Radeberg (Sachsen) 1959

Ein bisschen Geborgenheit bot die Kirchgemeinde, wenn es denn überhaupt in ihrem neuen Wohnort eine gab. Die wenigen Geistlichen wurden von der großen Zahl neuer Katholiken überrollt. Zahlreiche Außenstationen mussten eingerichtet werden, um regelmäßig Gottesdienste feiern zu können. Säle in Wirtshäusern, in Fabriken, aber auch evangelische Kirchen konnten für diese Zusammenkünfte genutzt werden. Auch die Kirchgemeinde musste sich erst neu finden, so wie sie zusammengewürfelt war aus Menschen aus Schlesien, Böhmen und nun aus Ungarn, zu der auch ein paar Einheimische gehörten. Die meisten Lieder, die in der Kirche gesungen wurden, waren den Ungarndeutschen unbekannt. Die kirchlichen Feiertage, die in der alten Heimat Höhepunkte im Jahresverlauf waren, konnten in der evangelisch geprägten Umgebung nur recht bescheiden begangen werden. Vor allem die älteren Vertriebenen vermissten unter diesen Umständen die heimatliche Kirche sehr und litten darunter stark.

In den ersten Monaten nach der Vertreibung wurde ernsthaft über Rückkehrmöglichkeiten gesprochen. Einige haben es sogar versucht, nach Hause zu gelangen. Die meisten von diesen wurden an der Grenze abgefangen, eine Zeitlang eingesperrt und wieder abgeschoben. Auf die Anfrage eines Ausgewiesenen teilte die Diplomatische Mission der Ungarischen Volksrepublik in Berlin im Februar 1950 mit, “dass die Aussiedlung im Sinne der Verordnung des Innenministeriums rechtmäßig war und die ungarische Staatsangehörigkeit beendete. Daher sind weder eine Rückkehr noch die Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft möglich.”

Die Heiratsfähigen suchten sich ihre Partner unter den Landsleuten oder unter anderen Vertriebenen. Im Laufe der Jahre und bei der nachwachsenden Generation ergaben sich auch hin und wieder familiäre Verbindungen mit Alteingesessenen.

Trotz der zwangsweisen Aussiedlung aus Ungarn ist die emotionale Verbindung mit der alten Heimat nie abgerissen. Sobald die Möglichkeit gegeben war, was so Ende der 50er Jahre, Anfang der 60er eintrat, wurden die persönlichen Verbindungen mit Verwandten oder Freunden, die in der Heimat verbleiben durften, durch Reisen wieder hergestellt. Jetzt konnten die Menschen aus Deutschland auch unmittelbar erfahren, wie es den in der Heimat Verbliebenen ergangen war. Der Vergleich der Lebensumstände fiel nun doch etwas differenzierter aus, als man es sich aus der Ferne vielleicht vorgestellt hatte. In Ungarn konnten sich die reisebeschränkten DDR-Deutschen aber auch mit ihren Bekannten aus dem Westen treffen. Solange die Gesundheit es erlaubte und die Nahestehenden noch lebten, waren gegenseitige Besuche eine regelmäßige Angelegenheit. Aber im Laufe der Jahre sind die familiären Beziehungen natürlicherweise lockerer geworden oder wurden ganz beendet. Die nachwachsenden Generationen haben diese Bindungen nicht mehr, aber auch für sie sind Budapest und der Plattensee oder Bük und Hajdúszoboszló keine böhmischen Dörfer.

Von den durch Flucht, Vertreibung und Ausweisung als Folge des Zweiten Weltkrieges unmittelbar betroffenen Menschen, von der so genannten Erlebnisgeneration, leben nur noch wenige. Ihre in Deutschland geborenen Nachkommen kennen die leidvollen Ereignisse nur aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern oder aus Geschichtsbüchern. Die Generation der Enkel ist zu Sachsen oder auch zu Pfälzern, Franken, Bayern oder Württembergern geworden. Von den Gleichaltrigen ihrer Umgebung unterscheiden sie sich kaum noch. Nur ihre Familiengeschichte verweist auf ihre ungarndeutschen Wurzeln.

Emil Magvas

2013-12-20