“Maria Theresia der Donauschwaben” - Ingomar Senz über Annemarie Ackermann

Etwas mehr als 50 Personen fanden sich am 7. September 2013 im Haus Pannonia in Speyer ein, um an der von der Donauschwäbischen Kulturstiftung ausgerichteten Gedenkfeier anlässlich des 100. Geburtstages von Annemarie Ackermann (1913-1994) teilzunehmen. Höhepunkt der Veranstaltung war der Vortrag von Dr. Ingomar Senz mit dem Titel “Die Kraft des Bodenständigen – Leben und Bedeutung der donauschwäbischen Politikerin Annemarie Ackermann”.

Dabei gelang es Dr. Senz in ausgezeichneter Weise, den Anwesenden die “First Lady” der Donauschwaben näherzubringen. Ein großes Verdienst Ackermanns, der bislang einzigen donauschwäbischen Frau im Deutschen Bundestag, war die Freilassung zahlreicher in Rumänien verhafteter Priester, Ordensschwestern und Laien, welche sie über den bundesdeutschen Außenminister Brentano erwirkte. Ihr Herzblut für die Donauschwaben veranschaulichte Dr. Senz an folgender Episode:

Wilhelmine Schnichels, Annemarie Ackermann
Wilhelmine Schnichels, Vorsitzende der Donauschwäbischen Kulturstiftung, und ein Bild von Annemarie Ackermann - Foto: Jürgen Schneider

Als es im Bonner Bundestag im Rahmen der Vertriebenengesetze um die Entscheidung der Einbürgerung ging, lieferte Frau Ackermann ein Bravourstück, wie es wohl nur einer um die Selbsterhaltung kämpfenden Frau gelingen kann.

Als sie in der alles entscheidenden Sitzung die Frage aufwarf, was mit den Südostdeutschen geschehen solle, entgegnete Staatssekretär Ritter von Lex: “Sie können doch nicht verlangen, dass wir diese ganzen Typen hier einbürgern!” Darauf Frau Ackermann in höchster Erregung: “Typen? - Ich gehöre auch zu diesen Typen! So eine Type bin ich auch! Und ich lasse mir das nicht gefallen, dass Sie eine ganze Volksgruppe verunglimpfen! Wir sind genauso deutsch wie die anderen, Sie können es an den Namen ersehen und an anderem…denn sonst wären wir ja nicht vertrieben worden, wenn wir nicht Deutsche gewesen wären! Sonst hätten wir ja ruhig dort bleiben können! - Ich lasse das nicht auf mir sitzen, ich gehe an die Presse!”

Wer sich für eine Video-DVD dieser Veranstaltung interessiert, kann sich an folgende eMail-Adresse wenden: schnichels@donauschwaben.net

Hier der komplette Vortrag von Dr. Ingomar Senz:

Ende April 1958 wurden die 21 Mitglieder des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag eingeladen, sich von der Ausbildung der Bundeswehr-Düsenflieger aus nächster Nähe und durch einen Flug persönlich ein Bild zu machen. Während alle 19 männlichen Mitglieder angeblich aus Zeitgründen absagten, nahmen die beiden weiblichen Vertreter Claire Schmitt und Annemarie Ackermann die Einladung an. Hintergrund der Einladung war eine Beschwerde der Bundeswehrflieger über unzureichende Verpflegung, da die Auslagen für den Kauf von Zusatznahrung die Gefahrenzulage aufzehrten. Um sich an Ort und Stelle über die Notwendigkeit der Mehrausgaben zu informieren, baten die beiden Damen Ende 1958 darum, einen kurzen Ausbildungskursus mit Düsenjägern mitmachen zu dürfen. “Um Gottes Willen, viel zu gefährlich” winkte Verteidigungsminister Strauß ab. Aber die beiden Damen pochten so lange auf ihr Recht, bis das Ministerium mürbe wurde und die Einladung aussprach. Weder der ärztliche Fitnesstest noch die Betätigung des Schleudersitzes oder der Umgang mit dem Fallschirm konnten die Damen auf dem Weg zu ihrem ersten Flug stoppen.

Aber statt eines ruhigen Fluges im Düsenjäger erwartete die mutigen Frauen ein besonderer Härtetest: ein aufkommendes Tief zwang sie auf 10 000 m Höhe zu gehen und im Sturzflug zu landen. Doch das Gefühl der Schadenfreude als Entschädigung für die Mißachtung ihrer Warnungen wurde der versammelten Bundeswehrmannschaft nicht zuteil. Statt zweier Frauen mit leichenblasser Miene oder grüner Gesichtsfarbe, wie erwartet und erhofft, stiegen zwei muntere Fliegerinnen aus dem Cockpit, die unisono bekannten: “Es war einfach herrlich!” Die Tage in Fürstenfeldbruck und der Flug bewiesen, daß Piloten keine zu großen Mägen besitzen, sondern daß Fliegen tatsächlich hungrig macht und daher Zusatzrationen erfordert. Diese wurden dann auch prompt bewilligt.

Obwohl diese Episode sich mehr in der Luft und nicht auf dem Boden abspielte, sagt sie doch einiges über die Bodenständigkeit von Frau Ackermann aus: Ihr Mut, ihre Zähigkeit im Verhandeln und das Bemühen, einer Sache auf den Grund zu gehen zeigen doch exemplarisch die Kraft des Bodenständigen.

Ingomar Senz
Referent Dr. Ingomar Senz begeisterte mit seiner Detailkenntnis - Foto: Jürgen Schneider

Frau Ackermann wurde als Annemarie Eisemann am 26. Mai 1913 in Parabutsch/Batschka geboren. Nach dem frühen Tod der Eltern – ihr Vater starb im Kriegseinsatz während des Ersten Weltkriegs an einer Cholera-Epidemie , die Mutter fiel 1920 einem Unfall zum Opfer – verbrachte sie ihre Jugendzeit bei den Großeltern auf dem Bauernhof. Hier wurde sie mit allen praktischen Arbeiten vertraut, die die Landwirtschaft erfordert: sie konnte Kühe melken, Schweine schlachten und Gänse stopfen. Sie eignete sich aber auch das nötige Hintergrundwissen darüber an, besaß enorme Kenntnisse über Pflanzenpflege und Viehzucht. Deshalb ist es beinahe selbstverständlich, daß die Großeltern ihrer aufgeschlossenen, wissensdurstigen Enkelin eine gediegene Schulbildung angedeihen ließen. So besuchte sie nach der Volksschule die Mittelschule im Kloster Batsch und anschließend Ende der zwanziger Jahre die höhere Töchterschule in Graz.

Andererseits wurde schon von Kindesbeinen an ihr musischer Sinn geweckt. Sie lernte Klavierspielen, war Chormitglied in Neusatz, später auch in Landau in der Pfalz und konnte zahlreiche Opernarien ebenso auswendig wie unzählige Gedichte, ein Beweis für ihr phänomenales Gedächtnis. Darüber hinaus lernte sie als Klosterschülerin in Batsch alle denkbaren Handarbeitstechniken, die sie später verfeinerte und in Notzeiten für das Wohl der Familie einzusetzen wusste.

Bereits in der Scheune ihres Großelternhauses übte sie mit den gleichaltrigen Bauernmädchen Volkslieder und Volkstänze ein und hielt als jungverheiratete Frau noch in Parabutsch vor lauter Männern im Casino und beim Bauernverein Dichterlesungen über Adam Müller-Guttenbrunn oder Nikolaus Lenau. Auch später, als sie Mitte der dreißiger Jahre mit ihrem Mann, dem Human- und Zahnarzt Matthias Ackermann, den sie 1931 geheiratet hatte, nach Neusatz übersiedelte, war es für sie selbstverständlich, ihre Jungmädchenaktivitäten als Frauenschaftsleiterin im Rahmen des Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes fortzusetzen. Z. B. ergriff sie bei der Hochwasserkatastrophe des Jahres 1940 sofort die Initiative, als die Häuser zahlreicher Landsleute unter Wasser standen Tagelang kochte sie für Notleidende und sicherte deren weitere Versorgung.

Dieses sozialaktive Verhalten entspringt durchaus dem Bodenständigen. Abgesehen davon, daß es neben der bäuerlichen kaum eine Arbeit gibt, die so viel mit dem Boden, dem Ursprünglichen, dem Natürlichen zu hat, ist die Hinwendung zu anderen Menschen, um sie an Kultur heran- und damit einer höheren Lebensqualität zuzuführen, ein Dienst an der Gemeinschaft. Der Impuls dazu entstammt der ursprünglichen Bestimmung des Menschen als Gemeinschaftswesen. Das Auffällige an all diesen Aktivitäten ist die dem Bodenständigen entspringende rasch zupackende Art.

Sie verstand jedoch diese Fertigkeiten durchaus als Liebhabereien, die ihr Freude bereiteten und die sie deshalb in älteren Jahren als Hobby weiterpflegte: Sie hielt zehn Jahre lang Seminare in Werken, Handarbeiten und Basteln beim Katholischen Bildungswerk und bei der Volkshochschule ab. Handarbeiten als Liebhaberei, als Hobby, eine praktisch-nützliche Tätigkeit zur Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit, gleichzeitig aber auch eine Befriedigung des in ihr angelegten äesthetischen Sinnes. Auch hier das Bemühen, sich selbst einzubringen, um anderen etwas zu vermitteln, um ihnen das Leben zu erleichtern und mehr Qualität in die Welt zu bringen.

So tritt uns bereits in der alten Heimat eine ungewöhnliche Frau entgegen, die alle Bereiche beherrscht, mit denen eine junge Donauschwäbin damals in Berührung kommen kann: sie ist eine perfekte Bäuerin und Hausfrau, weist eine gediegene musische und Schulbildung auf und zeigt großes Engagement im Einsatz für Gemeinschaftsaufgaben. Um aber auch nichts auszulassen, spielte sie auch leidenschaftlich gerne Tennis und erwarb als eine der ersten Frauen in Neusatz den Führerschein.

Wenn man – um mit Goethe zu sprechen – “mit festen, markigen Knochen auf der wohlgegründeten, dauernden Erde steht”: also wenn ein starker Mensch so tief in seinem Untergrund wurzelt, daß ihn nichts erschüttern kann, daß er auf alle Herausforderungen eine einfache Antwort weiß, der aus dieser Selbstsicherheit heraus mutig ist, der gewappnet ist gegen vorübergehende Modeerscheinungen und Zeitströmungen, dessen Blick auf Dauerhaftes und Bleibendes gerichtet ist, der – immer wieder neu – seine Kraft aus dem Boden bezieht, der ist bodenständig. Eine so ausgestattete Person bildet sich natürlich auf dieser Grundlage weiter und erwirbt sich Eigenschaften, die mit dem Bodenständigen korrespondieren: einen gesunden Menschenverstand in erster Linie, aber auch Nähe zu den Menschen und damit Einsatzfreude und Verantwortungsbewußtsein für diese.

1944 musste Frau Ackermann die Heimat verlassen, blieb bis 1946 in Ungarn hängen, wo sie allerdings ihren Mann wiederfand, und verbrachte über vier Jahre in österreichischen Massenlagern. Um während dieser Zeit nicht zu verhungern, arbeitete sie in Ungarn als Stallmagd auf einer Tanya und brachte die Familie in Österreich durch Näh- und Strickarbeiten fort. Als ein Vorkriegsbekannter aus der Pfalz der Familie 1951 die Übersiedlung nach Landau ermöglichte, rief Frau Ackermann bei der Ankunft aus: “Von hier gehen wir nicht mehr weg!” Der heimatliche Dialekt, die herrliche Landschaft, die Fröhlichkeit der Leute sprachen sie unmittelbar an. Kaum eingewöhnt, trommelte sie bereits alle jungen Leute einer Flüchtlingssiedlung zusammen, begeisterte sie fürs Singen, Tanzen und Theaterspielen und gründete mit ihnen im leeren Zimmer einer Bekannten die erste donauschwäbische Trachtengruppe in Deutschland. Von Anfang an im Katholischen Frauenbund sowie im sozialen Bereich und Flüchtlingswesen engagiert, war es kein Wunder, dass sie sehr rasch in der CDU Fuß fasste.

An dieser Stelle muß ich einhalten und erneut auf das Bodenständige zu sprechen kommen. Frau Ackermann hat inzwischen den Boden, in dem sie wurzelte, verloren und mußte sich in der Fremde eine neue Heimat aufbauen. Wieviel ihr der Heimatboden buchstäblich wert war, erlebte ich persönlich in Radkersburg/Steiermark, als ich beobachten konnte, daß sie sich auf der jugoslawischen Seite der Stadt ein Plastiksäckchen mit jugoslawischer, also Heimaterde füllte und wie einen Schatz hütete. Wir müssen uns hier mit dem Gedanken vertraut machen, daß man Erde verpflanzen, sie an die richtige Stelle bringen kann, wo sie erneut Früchte hervorbringt, vielleicht bessere und wertvollere als vorher. Es verläuft aber auch andersherum: Der richtige Boden zieht Talente an, die erfassen, daß eine bestimmte Region für sie der richtige Nährboden ist, ihre Begabungen zu entfalten. Auf diese Weise entstanden z.B. die Malerkolonien um Murnau und Dachau in Oberbayern oder in Worpswede bei Bremen. Stets waren es Moorlandschaften, deren besondere Lichteffekte die Landschaft in eigenartige Farben tauchten und damit auf die Künstler attraktiv wirkten. Sie brachten die in ihnen schlummernde Bodenständigkeit mit dem richtigen Boden zusammen und waren dann fähig, Geniales zu schaffen. Ebenso verhielt es sich mit dem “Genius loci” Wien für die Musik.

Diese Erfahrung widerfuhr Frau Ackermann. Überall, wo sie bisher auftrat, stellte sie mühelos Kontakte her, ging auf die Menschen zu und riss sie mit ihrem Schwung und ihrer dynamischen Art mit. Alles, was sie anpackte, besaß Hand und Fuß, getragen von der Bereitschaft, den Menschen und besonders ihren Landsleuten zu helfen. Jetzt aber, auf neuem, durchaus nahrhaftem Boden, entzog sie diesem Säfte, die sie sozusagen zu Höherem beflügelten.

Eine zweite Episode aus ihrem Leben soll uns die neuen Dimensionen des Bodenständigen auf vorerst fremder Erde erschließen helfen. Als es im Bonner Bundestag im Rahmen der Vertriebenengesetze um die Entscheidung der Einbürgerung ging, lieferte Frau Ackermann ein Bravourstück, wie es wohl nur einer um die Selbsterhaltung kämpfenden Frau gelingen kann. Als sie in der alles entscheidenden Sitzung die Frage aufwarf, was mit den Südostdeutschen geschehen solle, entgegnete Staatssekretär Ritter von Lex: “Sie können doch nicht verlangen, dass wir diese ganzen Typen hier einbürgern!” Darauf Frau Ackermann in höchster Erregung: “Typen? - Ich gehöre auch zu diesen Typen! So eine Type bin ich auch! Und ich lasse mir das nicht gefallen, dass Sie eine ganze Volksgruppe verunglimpfen! Wir sind genauso deutsch wie die anderen, Sie können es an den Namen ersehen und an anderem…denn sonst wären wir ja nicht vertrieben worden, wenn wir nicht Deutsche gewesen wären! Sonst hätten wir ja ruhig dort bleiben können! - Ich lasse das nicht auf mir sitzen, ich gehe an die Presse!” Nun versuchten einige befreundete Vertriebenenabgeordnete ihre Kollegin zu beruhigen, indem sie sich mit ihr solidarisch erklärten und vorschlugen, diese Frage Außenminister Dr. von Brentano vorzutragen. Aber Frau Ackermann war so außer sich, dass sie demonstrativ die Sitzung verließ.

Zwei Tage darauf fand sich die Gruppe dennoch im Vorzimmer Brentanos ein. Frau Ackermann war noch immer aufs äußerste empört, und Herr Ritter von Lex vermochte sie nicht zu beschwichtigen. “Was ist denn hier los?” platzte urplötzlich die Stimme des Außenministers dazwischen. Noch ganz aufgelöst, schilderte ihm Frau Ackermann die geplante Diskriminierung ihrer Volksgruppe. Brentano, sichtlich beeindruckt von der Leidenschaftlichkeit ihres Engagements und der Entschiedenheit ihres Auftretens, lenkte sofort ein und versicherte, dass die Sache in Ordnung gehe. Daher erhielten alle Landsleute die Einbürgerung und wurden den anderen Vertriebenen gleichgestellt.

Die Vorstellung, ein “Zoon politikon” zu sein, ein Mensch, der nicht für sich alleine steht, sondern erst unter Menschen seine Erfüllung findet, lag ihr im Blut, brauchte ihr nicht erst von der Schule oder Umwelt eingetrichtert zu werden. Nicht weil ihr beruflicher Aufstieg oder finanzieller Nutzen winkte, brachte sie sich für andere ein, sondern weil es sie danach drängte, weil es ihrem Wesen entsprach.

Frau Ackermann erwies sich außerdem als eine Persönlichkeit, die fähig war, Dinge auf das Grundsätzliche zurückzuführen, ohne sie zu verkomplizieren, sie auf diese Weise den Menschen einleuchtend zu machen. Dank dieser Fähigkeiten wird das erreicht, was das Grundanliegen eines jeden guten Politikers sein müsste: Die inzwischen ungeheuer kompliziert gewordenen Vorgänge in der “großen Welt” der Politik in fassbare Formen zu gießen und sie so dem kleinen Mann verständlich zu machen. Damit war sie geradezu für die Politik geschaffen, der Idealfall für eine politische Karriere.

Die politische Stunde Annemarie Ackermanns schlug 1953. Sie hatte sich nie vor ihrer Wahl um die Ochsentour, die viele Leute in der Politik nach oben bringt, gekümmert. Nicht das untätige Warten, bis man dran ist, nicht die Kenntnis von Paragraphen und Parteiprogrammen, nicht die Machenschaften hinter den Kulissen führten sie nach oben, sondern ihre unmittelbar ansprechende natürliche Menschlichkeit, ihre praktische Art sowie ihre Kompetenzen veranlassten die Pfälzer, ihre Listenkandidatin in den Deutschen Bundestag zu wählen.

Bezeichnenderweise äußerte sie sich anlässlich ihrer Wahl bescheiden: “Ich bin gar keine Politikerin, ich bin ja Hausfrau”! Aber eine Frau mit der Kraft des Bodenständigen und dem gesunden Menschenverstand einer Hausfrau; zwar, mit den Worten Kaiserin Maria Theresias und daher auf ihre Person bezogen: “Ich bin zwar nur eine arme Königin, aber mit dem Herz eines Königs!” Außerdem besaß sie gleich eine klare Zielvorstellung: “Dort (im Bundestag) hoffe ich, für meine Landsleute etwas tun zu können, besonders aber auch für die Kriegshinterbliebenen und Waisen - nicht nur mit Geld, sondern auch durch wertvollen Rat: ich glaube, dass darin eine Aufgabe für die Frauen im Bundestag liegt. Nicht mit Verstand und Paragraphen, sondern mit Liebe und Herz will ich arbeiten zum Wohle aller!”

Wie stand es nun um die politische Situation der Heimatvertriebenen aus Südosteuropa am Beginn ihrer politischen Karriere? Josef Trischler, Angehöriger des ersten Bundestages von 1949 - 1953 und Frau Ackermann waren die einzigen Abgeordneten für alle heimatvertriebenen Deutschen aus den südosteuropäischen Staaten Slowakei, Ungarn, Rumänien sowie Jugoslawien. Beide sahen es daher als besondere Verpflichtung an, sich um deren Angelegenheiten zu kümmern. Die Zeit, in der Frau Ackermann im Bundestag wirkte, war eine Art “Gründerzeit” für die BR Deutschland. Der richtige Weg musste für die junge und noch unerfahrene Demokratie erst gefunden werden. Es ging also in der Regel um Grundsätzliches, die meisten Gesetze waren von großer Bedeutung und richtungweisend.

Genauso verhielt es sich bei dem Vertriebenenproblem. Ein solches Phänomen hatte es bis dahin in Europa noch nicht gegeben. Es galt anfangs zwölf, später sogar 15 Mill. Heimatvertriebene und Flüchtlinge aufzunehmen, ihnen menschenwürdige Lebensverhältnisse zu gewährleisten und sie einzugliedern, sie zu mit den einheimischen Bürgern in jeder Hinsicht gleichzustellen. Darüber hinaus bestand für die donauschwäbische Abgeordnete die Aufgabe darin, überhaupt erst auf die Existenz von Deutschen in Südosteuropa aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass diese während des Zweiten Weltkrieges nicht nur ihr Hab und Gut verloren, sondern auch ihre Männer als Soldaten dem Deutschen Reich zur Verfügung gestellt hatten und vor allem deswegen vertrieben wurden, weil sie Deutsche waren.

Die bislang einzige donauschwäbische Frau im Deutschen Bundestag und in der Politik überhaupt setzte während ihrer politischen Tätigkeit innerhalb dieses Rahmens bemerkenswerte Akzente.

Sie war Mitglied in drei parlamentarischen Ausschüssen: dem Lastenausgleichs-, Vertriebenen- und Verteidigungsausschuss. Im ersten galt ihr Bemühen vor allem der Einbeziehung ihrer deutschen und österreichischen Landsleute in die Lastenausgleichszahlungen; im zweiten erkämpfte sie die Einbürgerung ihrer südostdeutschen Landsleute und somit deren Gleichstellung mit den übrigen deutschen Vertriebenen. Es ging aber immer wieder auch um Stellungnahmen zu aktuellen Problemen der deutschen Außenpolitik, v.a. bei den Beziehungen zu Jugoslawien. Mitglied des Verteidigungsausschusses wurde Frau Ackermann auf Wunsch der Frauen ihres Wahlkreises. Ihnen lagen natürlich weniger militärische Fragen am Herzen als die Wohnverhältnisse in den Kasernen und Probleme der Freizeitgestaltung. Ferner war sie Mitglied der Europäischen Frauenunion, darin zeitweilig die erste Vorsitzende der Flüchtlingskommission.

Nach den grundsätzlichen Lastenausgleichsgesetzen, an denen Josef Trischler einen maßgebenden Anteil hatte, ging es in der Abgeordnetenzeit Frau Ackermanns vor allem um das Bundesvertriebenengesetz und seine wegweisenden Grundsatzentscheidungen zu Rechtstellung und Eingliederung ihrer Landsleute. Am wichtigsten war die Frage der Staats- und Volkszugehörigkeit - die zwar bei ehemaligen volksdeutschen Soldaten der Deutschen Wehrmacht eindeutig, aber bei Mischehen und deren Nachkommen durchaus umstritten war -, und die Klärung der Volkszugehörigkeit bei Leuten, die sich ihrer möglicherweise erst erinnerten, als ihnen nach Eindeutschung fette Renten oder Pensionen winkten.

Ihnen standen an Bedeutung kaum nach die Entscheidungen zur Beendigung des unmittelbaren Flüchtlingsdaseins, also solche, die qualitativ und quantitativ dem Beheimatungs- und Eingliederungsprozess dienten. Dazu gehören das Zusammenführen von durch die Kriegsereignisse auseinandergerissenen Familien (vor allem der Einsatz für in Jugoslawien zurückgebliebene Waisenkinder), die Zuerkennung des richtigen Status als Vertriebener, Heimkehrer, Kriegsgefangener, Kriegsopfer; die Beendigung der unbehausten Lagerexistenz durch Zuweisung von Dauerwohnraum (man muss hierbei bedenken, dass noch 1955 371 540 Menschen in über 3000 Lagern leben mussten); das Erarbeiten von spezifischen Bemessungsgrundlagen für den Lastenausgleich sowie die Nachweise und Bewertungen verschiedenster Vermögensverluste, das Auf-den-Weg-Bringen besonderer Förderungsmaßnahmen und schließlich die Existenzgründungen und Eingliederung.

Wie bereits die beiden angeführten Anekdoten verdeutlichen, war die Vorgehensweise Frau Ackermanns meist persönlich geprägt.

Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Jugoslawien stellte sich die Frage nach dem Schicksal der dort noch zurückgehaltenen donauschwäbischen Landsleute. Den deutschen Botschafter in Belgrad ließ die ungeklärte Zukunft dieser Deutschen ziemlich kalt und ließ daher ein Formblatt des Inhalts an die Ausreiseantragssteller verschicken, dass sie erst nach einem Jahr mit einer Antwort rechnen könnten. Erst als Frau Ackermann in dieser Frage bei Außenminister Heinrich von Brentano direkt intervenierte, konnte sie diese nicht hinnehmbare Vorgehensweise stoppen und die beantragten Ausreisen in die Wege leiten. Die Ausreisebewilligung sowie die Transportkosten ließ sich die jugoslawische Regierung allerdings vom deutschen Staat bezahlen. Zur Einschätzung dieser Leistung Frau Ackermanns muss man wissen, dass das Auswärtige Amt innerhalb des Regierungskabinetts sehr abgeschottet und selbständig agierte und agiert. Um etwas zu erreichen, muss sich ein gewöhnlicher Abgeordneter schon persönlich einen Zugang zum Außenminister verschaffen, um seine Sache erfolgreich vertreten zu können.

Besonders schwierig gestaltete sich dies bei damals noch im Ausland lebenden Angehörigen der Waffen-SS. Diese beriefen sich deutschen Behörden gegenüber auf einen Führerbefehl, der sie zu deutschen Staatsbürgern gemacht hätte, diesen Führerbefehl erkannten die deutschen Behörden aber nicht an, ohne jedoch zu wissen, dass diesen Personen gleichzeitig die ungarische Staatsangehörigkeit aberkannt worden war. Erst diese Information ließ den Widerstand schwinden.

In Österreich mussten viele donauschwäbische Landsleute jahrelang auf der Stufe von Staatenlosen ausharren, ohne dass ihnen die Einreise in die BR Deutschland erlaubt worden wäre. Frau Ackermann fuhr in diesem Zusammenhang mehrfach in österreichische Lager, hielt dort Sprechtage ab und informierte über den deutschen Lastenausgleich. Erst vor diesem Hintergrund erschien eine Intervention bei Außenminister Brentano sinnvoll und beendete deren Existenz ohne Staatsbürgerrecht in Österreich durch die erlaubte Ausreise nach Deutschland.

So war sie: spontan und emotional, wie eine Löwin für die gerechte Sache ihrer Landsleute kämpfend und unerschrocken ihre ganze Persönlichkeit in die Waagschale werfend. Um den überragenden Einsatz Frau Ackermanns ermessen zu können, muss man sich vor Augen halten, dass sie auf der Landesliste von Rheinland Pfalz für die Wahrnehmung Pfälzer Interessen gewählt worden war. Diese Aufgabe erfüllte sie natürlich mit der ihr eigenen Gewissenhaftigkeit. Aber für die Sache der Südostdeutschen, speziell der Donauschwaben, gab sie ihr Herzblut. Hier wurde ihr die Arbeit, ihr Einsatz nie zuviel, hier tauchte sie auch immer wieder an Ort und Stelle des Geschehens auf, wie in einigen österreichischen Flüchtlingslagern. Der Ungarnaufstand 1956 rief die frischgebackene Bundestagsabgeordnete sofort auf den Plan: sie organisierte von München aus die ersten Rot-Kreuz-Transporte, verhandelte im Auftrag der Bundesregierung mit österreichischen Regierungsstellen über Hilfsmaßnahmen und kümmerte sich persönlich um die Flüchtlinge in den Aufnahmelagern. Unmittelbare materielle Hilfe und Ausreisegenehmigungen in die BR Deutschland waren die direkten Ergebnisse ihrer Bemühungen.

Karl Weber
Karl Weber, Beirat der Donauschwäbischen Kulturstiftung, leistete in den 1990er Jahren Unglaubliches, als er in Band IV des Leidenswegs der Deutschen im kommunistischen Jugoslawien 60 000 Tote (70 Prozent) namentlich und meist mit näheren Daten nachwies - Foto: Jürgen Schneider

Sie nahm an mehreren großen Reisen teil.

1956 weilte sie als offizieller Gast des Vorsitzenden des Donauschwaben-Hilfswerks Peter Max Wagner in den USA. Von New York bis Los Angeles bereiste sie ganz Amerika, begeistert begrüßt von ihren Landsleuten, hielt zu Herzen gehende Reden, führte Gespräche mit Regierungsvertretern aus Washington über die Flüchtlingsfrage in Europa und erhielt zahlreiche Ehrungen, z.B. die Ehrenbürgerschaft der Stadt Trenton/New Jersey.

Im August 1959 brach sie mit weiteren fünf Abgeordneten zu einer Afrikareise auf, die bis Anfang Oktober dauerte. Die Delegation bereiste Liberia, Nigeria und Ghana, um vor allem die sozialen Verhältnisse dieser Länder zu studieren und zu prüfen, wie am zweckmäßigsten geholfen werden könne. Über die Besichtigung von Missions- und Leprastationen, Schulen und Krankenhäusern gewann Frau Ackermann eine klare Vorstellung von der sozialen Infrastruktur in Mittelafrika und ein gründliches Bild von der Stellung der afrikanischen Frau, ihr besonderes Anliegen.

Häufig verbrachte sie kürzere oder längere Urlaube in Österreich und hielt dort Sprechstunden ab, weil sie sich für alle donauschwäbischen Landsleute auf der Welt verantwortlich fühlte und gerade in Österreich viele Probleme (Familienzusammenführung, Lastenausgleich, Übersiedlung nach Deutschland) anstanden, die sie aus eigener Anschauung kannte.

Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag selbstverständlich in der BR Deutschland. Als Bundestagsabgeordnete war sie natürlich “Vorzeigefrau” bei allen größeren landsmannschaftlichen Veranstaltungen. In zahllosen Reden bewies sie ihre politische Kompetenz, ihre Rednergabe und landsmannschaftliche Verbundenheit. Sie war dank ihrer Arbeit in den entsprechenden Ausschüssen die große Expertin in den Fragen des Lastenausgleiches, der Eingliederung, der Familienzusammenführung. Außerdem ist es ihr großes persönliches Verdienst, über Außenminister Brentano die Freilassung zahlreicher in Rumänien verhafteter Priester, Ordensschwestern und Laien zu erwirken, darunter Prälat Nischbach, Oberin Hildegardis Wulff und Josef Kräuter.

Als Rednerin besaß sie das Fingerspitzengefühl, stets den richtigen Ton zu treffen, die Probleme anschaulich und für alle begreiflich zu schildern und sofort den Kontakt mit den Zuhörern herzustellen. Ihre Fähigkeit, jederzeit in die donauschwäbische Mundart überzuwechseln, kam ihr stets zugute. “An der Art, wie Ihr Eier Kopftichl gebunde hän, haw ich gsehne, wu Ihr herkumme” redete sie einmal eine verblüffte Zuhörerin an. Ihr couragiertes Auftreten, ihre herzhafte Art verschafften ihr die Glaubwürdigkeit, um die sie beständig rang.

Auf einige Themen kam sie in ihren Reden als Herzenssache immer wieder zurück. Das Selbstbestimmungsrecht forderte sie als Völker- und Gottesrecht stets auch für die Deutschen, in den Vertriebenen sah sie das stärkste Bollwerk gegen den Bolschewismus, die gerade jene wachrütteln müssten, die in der Lethargie des Wohlstands erschlaffen. “Seien Sie das wache Gewissen, das die Lauen mahnt!” lautete ihr einprägsamer Mahnruf. Die Jugend ermunterte sie, Hand in Hand mit den Alten und Einheimischen Neues zu schaffen, aber immer wieder auch das Vätererbe zu bewahren. Die Hauptarbeit dabei müssten die Mütter leisten, indem sie die Erinnerung an heimatliche Sitten, Kultur und Werte im täglichen Umgang mit ihren Kindern einfließen ließen.

Als “First Lady” der Donauschwaben war es unumgänglich, sie auch in der Landsmannschaft entsprechend herauszustellen. In der reinen Männergesellschaft der donauschwäbischen Landsmannschaften mag die Vergabe einer Spitzenfunktion an sie nicht leichtgefallen sein. Dabei drängte sie sich in keiner Weise nach solch einem Amt und übernahm den Bundesvorsitz des Bundes Donauschwäbischer Landsmannschaften und den der Landsmannschaften der Deutschen aus Jugoslawien von 1959-1961 nur, weil sie die praktische Arbeit bei ihren wichtigsten Mitarbeitern aus der Landsmannschaft in besten Händen wusste. Es kennzeichnet ihre stets auf das Ganze gerichtete Einstellung, dass sie für den donauschwäbischen “Partikularismus” kein Verständnis aufbrachte, vielmehr sofort eine Einigung mit dem Ulmer Einheitsverband anstrebte, solange diese auf dem Programm stand.

So wird evident, dass es sich bei Annemarie Ackermann um eine Ausnahmepolitikerin handelt, die nicht nur bei ihren Landsleuten, sondern auch bei ihren Parlamentskollegen Achtung und Anerkennung genoss. Als Bundeskanzler Adenauer 1960 einen geeigneten Nachfolger für Vertriebenenminister Prof. Oberländer suchte, gehörte sie zu der Handvoll von Personen, die in der engsten Auswahl standen. Doch war zu diesem Zeitpunkt eine CDU-Ministerin undenkbar. Und ihre Pfälzer Parteifreunde äußerten: “Es ist nur zu hoffen, dass Frau Ackermann wieder … in den Bundestag kommt, denn würde sie dort fehlen, wäre das nicht nur ein großer Verlust für die Heimatvertriebenen, sondern auch für die Frauen in der Pfalz.” Allerdings schaffte sie es 1961 nicht mehr, weil trotz eines siebten Platzes auf der Landesliste das Gesamtergebnis der Partei so ungünstig ausfiel, dass dieser für eine Wiederwahl nicht mehr reichte. Obwohl sie anfangs 1965 für einen verstorbenen Kollegen bis zum Ende der Legislaturperiode in den Bundestag nachrückte, gab sie Ende 1965 aus gesundheitlichen Gründen (Herzinfarkt 1964) die politische Arbeit auf.

Nach ihrem Rückzug aus der Politik arbeitete sie trotz schwerer Krankheiten und mehrerer Operationen von 1965 bis 1978 als Referentin für Gastarbeiterfragen im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Bonn. Ihren Ruhestand verbrachte sie zurückgezogen in ihrem Haus in Vixel, ihre ganze Freude bildeten die fünf Kinder, elf Enkel und vier Urenkel sowie ihr Garten, solange sie sich noch bewegen konnte. Zuletzt war ihr dies nur mit Krücken und Rollstuhl möglich.

Frau Ackermann besaß einen ihre schulische Ausbildung weit überragenden Wissenshorizont, den sie durch umfangreiche Zeitungslektüre gerade auch ausländischer Blätter und Beschäftigung mit schöngeistiger Literatur, auch aus dem südostdeutschen Raum, ständig zu erweitern trachtete. Als Politikerin prägten sie zwei unverrückbare Grundpositionen: Ihr Christentum und Deutschbewusstsein. Darüber hinaus besaß sie ein beachtliches, aber nicht unbegrenztes Maß an Toleranz und Liberalität gegen Andersdenkende, das ihrer Einfühlungsgabe und Bereitschaft zuzuhören zugutekam. Der zufällige Umstand, dass sie die alphabetische Liste der Abgeordneten anführte – vor Adenauer – sicherte ihr von Anfang an einen hohen Bekanntheitsgrad.

Ihre Verdienste fanden natürlich in Auszeichnungen die gebührende Anerkennung: 1961 verlieh ihr die donaudeutsche Landsmannschaft der Pfalz das Ehrenzeichen in Gold, 1969 folgte in Stuttgart die Verdienstnadel in Gold und 1975 die Johann-Eimann Plakette.

Bis zu ihrem Tod pflegte sie den Kontakt zur Gemeinschaft ihrer Heimatgemeinde Parabutsch sowie mit ehemaligen Parlamentariern und verfolgte über die Medien die Tagespolitik. Plötzlich und unerwartet setzte ein Blutsturz am 18. Februar 1994 ihrem Leben ein Ende.

Ihre Unerschrockenheit, ihre volkstümliche Art, ihr praktischer Hausverstand, aber auch ihr christlicher Glaube, Verantwortungsbewusstsein und natürlicher Gerechtigkeitssinn, kurz ihre konsequent bodenständige Art machen sie zu einer singulären Erscheinung unter den Donauschwaben. Deswegen möchte ich mit einem ungewöhnlichen Vergleich enden: Sie war die Maria Theresia der Donauschwaben. Denn wie diese den Donauschwaben im Süden Ungarns eine neue Heimat schenkte, schuf Frau Ackermann wesentliche Voraussetzungen dafür, in Deutschland wieder eine Heimat zu finden und sich in diese zu integrieren.

2013-11-01