Zuversicht verbreitete Prof. Dr. Gerhard Seewann, Inhaber des Stiftungslehrstuhles für deutsche Geschichte und Kultur im südöstlichen Mitteleuropa in Fünfkirchen (Pécs), am 24. Januar 2013 im Haus des Deutschen Ostens, als er sein neues Standardwerk “Geschichte der Deutschen in Ungarn” vorstellte. Er habe keinen Zweifel, dass die in der Geschichte schon häufig totgesagte deutsche Minderheit in Ungarn fortbestehen werde. Ähnlich optimistisch äußerte sich Dr. Ágnes Tóth, Direktorin des Instituts für Minderheitenforschung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest, die sich in ihrer Studie “Rückkehr nach Ungarn 1946-1950” mit einem kaum bekannten Phänomen beschäftigt: Obwohl strengstens verboten, flüchteten mehr als 10 000 Donauschwaben nach der Vertreibung zurück und lebten zunächst im “sozialen Untergrund”. Viele wurden bei Razzien aufgegriffen, zu Haftstrafen verurteilt oder in Budapest in ein Internierungslager gesteckt und nach Österreich abgeschoben. Rund 8000 bis 10 000 Donauschwaben – so ein Vermerk der ungarischen Staatssicherheit aus dem Jahre 1950 - schafften es schließlich - trotz zum Teil mehrfacher Ausweisung - in Ungarn sesshaft zu bleiben – ein beispielloses Detail in der Vertreibungsgeschichte der Deutschen.
Dr. Ágnes Tóth liefert in ihrem Buch eine soziologisch-inhaltliche Analyse von 46 Interviews, die sie in den Jahren 2004 und 2005 in ungarischer Sprache mit den zurückgekehrten Donauschwaben führte. “Bei vielen Befragten setzte der Erinnerungsprozess erst mit diesen Interviews ein”, erklärte Dr. Ágnes Tóth. Im Anhang sind 19 dieser Interviews nachzulesen. Eine bemerkenswerte Konstante bei den Befragten ist der “ungarische Staatspatriotismus”. Das wird deutlich an der Schilderung, dass im Rahmen der Vertreibung auf Wunsch der Vertriebenen bei den Aussiedlerzügen von der anwesenden Musikkapelle die ungarische Nationalhymne gespielt wurde. Für die Deutschen aus Ungarn war es ein doppeltes Trauma, dass sie als deutschsprachige ungarische Staatsbürger aus Ungarn vertrieben und in Deutschland auf Grund ihres Dialektes vereinzelt als “ungarische Zigeuner” tituliert wurden. Im Rahmen der Buchvorstellung wurde ferner darauf hingewiesen, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Slowakei ausgesiedelten Ungarn ihr komplettes Hab und Gut (inklusive Vieh, Heu und teilweise sogar Mist!) transferieren konnten.
Prof. Dr. Gerhard Seewann nannte als einen seiner Antriebskräfte für die Erstellung des 1200 Seiten starken Werkes “Geschichte der Deutschen in Ungarn” – allein das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst 230 Seiten - die anhaltende “Ethnifizierung der ungarischen Geschichte” an Schulen und Universitäten. Er verwies dabei auf den kuriosen Umstand, dass nationale Minderheiten in der ungarischen Geschichtsschreibung nicht vorkämen und bei der Schilderung der Stadtgründungen im Mittelalter das Kunststück gelänge, das Wort “deutsch” zu vermeiden. Dabei spielten die Deutschen bezüglich der Stadtgründungen im ostmitteleuropäischen Raum eine zentrale Rolle, fast alle Städte wurden im Rahmen der Ostkolonisation von Deutschen gegründet. Was die Quantität betrifft, so schätzt Prof. Dr. Gerhard Seewann die Anzahl der Deutschen in Ungarn auf mindestens 300 000 am Ende des Mittelalters (bei einer Gesamtbevölkerung von 3,5 Millionen), auf 400 000 am Ende der Türkenkriege, zu denen sich dann rund 400 000 im 18. Jahrhundert angesiedelte Donauschwaben gesellten. Auf Grund des Geburtenüberschusses kann man Ende des 18. Jahrhunderts von rund einer Million Deutschen in den damaligen Grenzen Ungarns ausgehen. Ende des 19. Jahrhunderts waren es dann staatlichen Statistiken zufolge rund 2 Millionen Deutsche, wobei Prof. Dr. Gerhard Seewann aus kirchlichen Quellen schließt, dass es bestimmt zehn Prozent mehr gewesen seien. 1920 verblieben im Trianon-Ungarn 500 000 Deutsche, 1954 waren es 240 000. Eine heutige Bestandsaufnahme – die Ergebnisse der Volkszählung von 2011 liegen noch nicht vor – sei schwierig, weil: “Die Deutschen weigern sich, bei Volksbefragungen ihre Identität Preis zu geben.” (Seewann) Hier wirken die traumatischen Erfahrungen der Nachkriegszeit fort. Die Volkszählung aus dem Jahre 2001 weist 62 000 Deutsche aus. Schwerpunkt des ersten Bandes ist die Ansiedlungszeit der Donauschwaben im 18. Jahrhundert, Schwerpunkt des zweiten Bandes die Zeit von 1914 bis 1945. Zentral erörtert werden auch der Verlust, den Ungarn durch die Vertreibung der Deutschen erlitt, sowie Fragen zur Gegenwart der deutschen Minderheit: Was ist noch vorhanden? Wie ist es um die Identität und die Selbstverortung bestellt? In welche Richtung geht es?
Die bibliographischen Daten der beiden vorgestellten Bücher, die nicht über die Donauschwäbische Kulturstiftung, dafür aber über jede Buchhandlung in Deutschland bezogen werden können:
Tóth, Ágnes: Rückkehr nach Ungarn 1946-1950. Erlebnisberichte ungarndeutscher Vertriebener.
München 2012. Oldenbourg Verlag. 389 Seiten.
ISBN 978-3-486-71206-3
Seewann, Gerhard: Geschichte der Deutschen in Ungarn.
Band 1: Vom Frühmittelalter bis 1860.
Band 2: 1860-2006.
Marburg 2012. Herder-Institut.
ISBN Band 1: 978-3-87969-373-3
ISBN Band 2: 978-3-87969-374-0