Die politische Gestaltung der Zukunft hängt ebenso wie die kollektive Identität von Völkern wesentlich von der Sicht auf die Vergangenheit ab. Das wird am Beispiel Deutschlands überdeutlich, läßt sich aber auch in Ungarn eindrucksvoll studieren.
Dr. Gabór Tallai veranschaulichte in seinem Vortrag bei der jüngsten Jahrestagung der Stiftung Deutsche Kultur im östlichen Europa – OKR (Ostdeutscher Kulturrat) am 12./13. November 2012 die Auseinandersetzungen über die ungarische Geschichtspolitik, indem er die Arbeit des “Terror-Hauses” (Terror Háza) in Budapest vorstellte. Tallai, Programmdirektor und Stellvertreter der Gedenkstättenleiterin Dr. Mária Schmidt, hob hervor, daß das in der Prachtstraße Andrassy ut. im Gebäude eines einstigen Foltergefängnisses untergebrachte Museum von Anfang an höchst umstritten gewesen sei. Ende der neunziger Jahre hatte die seinerzeitige nationalliberale Fidesz-Regierung nicht nur Gedenktage sowohl für die kommunistischen Opfer als auch für die des faschistischen Pfeilkreuzlerregimes eingeführt, sondern wenig später auch Erinnerungshäuser für beide Leidensgruppen initiiert.
Dennoch wurde die politische Linke des Landes nicht müde, das im Februar 2002 eröffnete Haus des Terrors (www.terrorhaza.hu) wegen einer angeblich unzureichenden Berücksichtigung der Pfeilkreuzler-Untaten zu kritisieren. Derartige Bewertungen ließen sich bis heute beobachten, beklagte Tallai, zumal die politische Polarisierung in seinem Land anhalte und obwohl “Leiden letzten Endes unvergleichbar” seien.
Der Historiker, Journalist und Literat aus Budapest strich die zunehmende Bedeutung der oral history für die ungarische Geschichtswissenschaft im allgemeinen und die Arbeit seines Hauses im besonderen heraus. Das mit EU-Mitteln geförderte Museumsprogramm “Erinnerungspunkte” habe zu über 3000 Zeitzeugeninterviews geführt, erzählte er sichtlich stolz. Diese ermöglichten tiefe Einblicke in das grauenvolle Geschehen der totalitären Epochen und bekräftigten die Erkenntnis, daß “Täter keine Dämonen, sondern Menschen” seien und “Opfer keine Helden”. Die Verantwortung ist nach Tallais Meinung “immer persönlich und nicht kollektiv”.
Die Keller des Terror-Hauses, in denen zuerst faschistische Schergen folterten und dann – fast übergangslos – kommunistische, wurden rekonstruiert und wie das ganze Museum mit Filmen und Musik bewußt emotional ausgestaltet: Die Deportationen von über 700.000 ungarischen Staatsbürgern in sowjetische Arbeitslager nach 1945 (rund 300.000 starben) sind zum Beispiel durch einen Eisenbahnwaggon versinnbildlicht, in dessen Fenstern Besucher verschiedenste Filmsequenzen zu kommunistischen Massenverbrechen anschauen können.
Das Budapester Terror-Haus zählte in den letzten zehn Jahren mehr als vier Millionen Besucher, darunter gut die Hälfte Ausländer (vor allem US-Amerikaner, Deutsche, Italiener und Franzosen). Hinsichtlich der donauschwäbischen Leidens- und Vertreibungsgeschichte wurde 2006 ein Schwerpunktjahr veranstaltet: Bis heute gibt es nach Angaben des Referenten regelmäßige Informationsrundgänge für Schulklassen, in denen auch das Unrecht an den Ungarndeutschen zur Sprache kommt.
Der 1970 geborene Sohn eines Deutschen und einer Ungarin mahnte eine enttabuisierte Geschichtssicht an, die auch deutsche Opfer nicht ausklammere. Als symptomatisch für die schleppende juristische Aufarbeitung kommunistischen Unrechts nannte er den Fall des postkommunistischen Politikers János Fratanolo, der zu Beginn des neuen Jahrtausends demonstrativ das verbotene Symbol des roten Sterns trug, dafür vor einem ungarischen Gericht einen Verweis erhielt, jedoch vom Europäischen Gerichtshof freigesprochen wurde. Der ungarische Staat mußte letztlich 6000,- Euro an Verfahrenskosten und Entschädigung zahlen.
An die Adresse Deutschlands gewandt, mahnte Gábor Tallai: “Ganz Europa würde davon profitieren, wenn Deutschland und die Deutschen wieder zu sich finden” und fügte hinzu: “Als Ungar kann ich nur sagen: Wir brauchen Deutschland!”
Die mit einer Reihe ausgezeichneter Vorträge gespickte OKR-Tagung im Schloß Eichholz in Wesseling bei Bonn lief unter dem Titel “Wege in die Zukunft. Zusammenarbeit mit den östlichen Nachbarländern”. Stiftungspräsident Klaus Weigelt wies in seiner Begrüßung auf die eigene Vertrautheit mit dem Schloß als Tagungsstätte der Konrad-Adenauer-Stiftung hin, für die er insgesamt 15 Jahre beruflich tätig gewesen sei, und bedauerte den – mit dem Umzug der Stiftung nach Berlin verbundenen – geplanten Verkauf. Als Überleitung zum Thema zitierte er den aus dem hinterpommerschen Stolp stammenden Philosophen Odo Marquard mit der Erkenntnis “Keine Zukunft ohne Herkunft” sowie den an der Universität “Viadrina” in Frankfurt/Oder lehrenden Historiker Prof. Karl Schlögel mit Worten, die dieser im Oktober im Berliner Reichstag vor der Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion äußerte: “Die europäische Geschichtslandschaft ist ein vermintes Gelände. (…) Deshalb geht es um Enthysterisierung.”
Einem anderen Kerngedanken Schlögels folgend, der in seinem 2002 erschienenen Band “Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang” die Bedeutung des deutschen Kulturerbes im Osten für ganz Europa herausstellte, sieht Weigelt den besonderen Ansatz seiner Stiftung in der Frage nach dem Platz dieser Spuren für das grenzübergreifende Geschichtsbewußtsein des Kontinents.
Der begeisternde Vortrag Elisabeth von Küsters über ihre Arbeit am und im schlesischen Schloß Lomnitz (Lomnica), die Ausführungen Lisaweta von Zitzewitz‘ über die Buchreihen “Külzer Hefte” und “Schlösser und Gärten in Pommern”, von Dr. Jörg B. Bilke über “Die Stasi und die Vertriebenen” sowie von Dr. Stefan Cosoroaba aus Hermannstadt über die deutsche evangelische Kirche Rumäniens spiegelten verschiedenste Aspekte dieser Aufgabenstellung.
Einblicke in die Vorstellungswelt der Verantwortungsträger in Brüssel und Straßburg eröffneten das Referat von Prof. Dr. Hans-Gert Pöttering, Vorsitzender der Adenauer-Stiftung und zwischen 2007 und 2010 Präsident des Europäischen Parlaments, über “Die europäische Perspektive – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft” sowie der Vortrag von Prof. Dr. Hans Walter Hütter zum Thema “Europa erzählen. Überlegungen zum Haus der Europäischen Geschichte”. Dieses soll in Brüssel entstehen und bereits im Sommer oder Herbst 2015 seine Pforten öffnen.
Als Direktor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und gemeinsam mit dem polnischen Historiker Prof. Wlodzimierz Borodziej Leiter der Konzeptionsgruppe des künftigen Geschichtsmuseums in der EU-Hauptstadt sprach mit Hütter ein mit der Thematik eng vertrauter Wissenschaftler. Zweifel aus dem Publikum, ob das in der Öffentlichkeit und selbst unter führenden Politikern weitgehend unbekannte Vorhaben nicht an den sehr unterschiedlichen Vorstellungen der Nationalstaaten scheitern werde, begegnete der Bonner Historiker mit der Ankündigung, es mit seinem stark forcierten Planungsstand bis Ende 2012 “unumkehrbar” machen zu wollen. Außerdem betonte er das vom neuen Präsidenten des Europaparlaments, dem SPD-Politiker Martin Schulz, unlängst in höchsten Tönen vorgebrachte Lob des im sogenannten Eastman Building im Herzen des Brüsseler Europaviertels untergebrachten Hauses.
Überdies sei das Vorhaben mit seinen konzipierten 4500 qm Dauerausstellungsfläche in der gegenwärtigen Phase “vielleicht besonders wichtig”, da es trotz der “nach wie vor unterschiedlichen nationalen Erinnerungskulturen in Europa (…) das Gemeinsame herausstellt”. Hierbei gelte es, so der Museumsfachmann, bekannte Fakten in einen neuartigen supranationalen Raumbezug einzufügen. Das Massenphänomen von Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert sei in diesem Zusammenhang ebenso als “konstitutives Element” zu werten wie der Gedanke nationaler Selbstbestimmung ab dem Ende des 19. Jahrhunderts oder die Idee europäischer Integration nach dem Zweiten Weltkrieg.
Vorbildhaft für das angestrebte historiographische Verfahren sei Timothy Snyders 2011 erschienenes Werk “Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin”, in dem “auf brillante Weise” die Geschichte Ostmitteleuropas zwischen den Totalitarismen des Kommunismus und Nationalsozialismus erzählt werde. Wesentliche Fragestellungen seien jene nach den Grenzen Europas, die man multiperspektivisch darzustellen gedenke, und nach den spezifischen gemeinsamen Erfahrungen innerhalb dieses Raumes. Erhebliche Schwierigkeiten bereite naturgemäß die Auswahl, wobei vor allem das berücksichtigt werden müsse, was europaweite Bedeutung habe und im kollektiven Bewußtsein des ganzen Kontinents verankert sei.
Bei aller Auswahlproblematik tue sich zugleich die Chance auf, Schwerpunkte zu setzen und Kenntnisse zu vermitteln, “auf deren Basis ein Stück weit Bewußtsein geschaffen werden” könne. In diesem Sinne, betonte Hütter, müsse Geschichte immer als eine Konstruktion verstanden werden, weshalb die Gebote der Wahrhaftigkeit, Objektivität, Anschaulichkeit und wissenschaftlichen Aktualität hochzuhalten seien. Alles in allem erscheine das Haus in erster Linie als “Vermittlungs-, nicht Forschungsinstanz” mit hohen museumspädagogischen Ansprüchen. So solle die Ausstellung in einem lichten und offenen “Vollmuseum mit Sammlungsauftrag” Platz finden und per modernster Technik in allen 23 aktuellen EU-Amtssprachen lesbar gemacht werden. Die Inhalte würden aus unterschiedlichen Erzählperspektiven vorgetragen – von Mächtigen wie Ohnmächtigen, von Verantwortungsträgern, aber auch von Opfern.
Als Professor Hütter die lange Kette von Problemen bei der Einrichtung nationaler Geschichtsmuseen schilderte, konnte man in einigen Gesichtern des Auditoriums erneut massive Zweifel an der Realisierbarkeit des Großprojekts ablesen. Bezeichnenderweise beerdigte die neue französische Linksregierung Hollandes als eine ihrer ersten Maßnahmen die Pläne des von Sarkozy in die Wege geleiteten und von hochemotionalen Diskussionen begleiteten “Hauses der Französischen Geschichte”. Auch das bereits in Arbeit befindliche “Haus der Niederländischen Geschichte” in Arnheim wurde ad acta gelegt, und in Warschau gibt es für die Regierung Tusk offenbar andere Prioritäten (allen voran das Kriegsmuseum auf der Westerplatte) als das ebenfalls von der Vorgängerregierung angeregte nationale Geschichtshaus. In Österreich existierten zwar Pläne, die aber bisher noch nie das Stadium der politischen Beschlußfassung erreichten. Deutschland mit seinen gleich zwei nationalen Geschichtshäusern in Berlin (Deutsches Historisches Museum) bzw. Bonn sei eine große Ausnahme, wobei man für die Neukonzeption des Zeughauses Unter den Linden zehn Jahre lang diskutiert habe, während man hiermit in Brüssel trotz der außerordentlichen Vielfalt der kontinentalen Geschichte bereits binnen eines Jahres fertig gewesen sei.
Auf seiner Suche nach historiographischem Neuland wandte sich Hütter zwar zu Recht gegen “gewisse Kreise, für die Identitätsbildung etwas Böses” sei, und wissenschaftliche Zirkel, in denen Protagonisten wie Aleida Assmann oder Claus Leggewie Debatten über “Identitätskonstruktionen” führten. Und doch begab er sich bei der Skizzierung des Raumstrukturplanes des Brüsseler Hauses selbst auf hochideologisches Terrain, als klar wurde, wie sehr die Zeitgeschichte – allen voran die zwei Weltkriege, die beiden berüchtigtsten Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und der Holocaust – das Museum zu dominieren drohen. Für die älteren und zugleich tieferen Identitätsbausteine Europas wie die griechische und römische Antike, das Christentum oder die frühe Neuzeit bleibt, daran ließ Hütter wenig Zweifel, lediglich die Funktion von Folien für mehr oder weniger detaillierte Rückbezüge.
Speziell in diesem Punkt gab es Kritik aus dem Publikum, zumal der Stiftung deutsche Kultur im östlichen Europa mit ihrer Zeitschrift Kulturpolitische Korrespondenz (KK) gerade angesichts fortwährender Währungsdiskussionen und bedrohlicher Inflationserscheinungen an einer räumlich wie ideell umfassenden Europakonzeption gelegen ist. Dementsprechend darf man gespannt sein, auf welche Weise sich die stets lesenswerte KK, die 2013 erstmals mindestens vier mal per anno durchgehend farbig erscheinen soll, in den kommenden Monaten zu Wort meldet.
Darüber hinaus ist der frühere OKR seit Sommer 2012 an einer der interessantesten Plattformen zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa beteiligt: dem Kulturportal West – Ost (www.kulturportal-west-ost.eu). Er betreibt dieses gemeinsam mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Das neue Portal bietet eine umfassende Datenbank zu den Trägern ostdeutscher Kulturarbeit und den Biographien großer Persönlichkeiten aus dem historischen deutschen Osten. Des weiteren sind alle erschienenen Ausgaben der KK abrufbar, und es finden sich Veranstaltungstipps ebenso wie Hinweise auf Buchneuerscheinungen.
Martin Schmidt
Kontakt:
Stiftung Deutsche Kultur im östlichen Europa – OKR, Cäsariusstr. 91, 53639 Königswinter, Tel.: 02223-9066011-2, www.kulturportal-west-ost.eu
Haus des Terrors/TerrorHáza, 1062 Budapest, Andrássy út 60, www.terrorhaza.hu
Alle Fotos wurden vom Haus des Terrors zur Verfügung gestellt.
2013-01-06