von Stefan Barth
Ich wurde oft gefragt, ob ich in die alte Heimat, in die Woiwodina, zurückkehren würde. Dort verbrachte ich meine Kindheit, mit der ich viele schöne Erinnerungen verbinde. Ich hatte viele Freiheiten. Wenn ich aus der Schule kam, warf ich den Schulranzen über das Tor und verschwand im Dorf, im Sommer an die Donau. Natürlich nur dann, wenn die Eltern nicht zu Hause waren. Und das war oft der Fall. Ich vagabundierte mit meinen Freunden oder allein umher. Im Sommer immer in kurzen Hosen und barfuss. Wenn es regnete, suchten wir die tiefsten Pfützen auf der unbefestigten Straße. An der Donau haben wir gebadet. Im seichten Wasser fingen wir mit einem Korb ohne Boden Fische. Dort war mir zum ersten Mal schlecht, als wir die Erwachsenen nachahmten und Kukuruzhaare (Maishaare) rauchten. Am Abend kam ich schmutzig nach Hause. Und die Mutter schrubbte mir die Füße, bis sie wieder eine natürliche Farbe bekamen.
Was bedeutet für mich Heimat? Das Land, in dem ich aufgewachsen bin, wo meine Eltern leben, wo meine Vorfahren lebten, wo ich meine Muttersprache erlernt habe, wo ich mich kulturell entwickelte, wo ich zur Schule ging, Freunde gefunden und meine Familie gegründet habe, wo ich in Frieden und Gleichberechtigung mit meinen Mitbürgern leben kann und wo die Menschenrechte geachtet werden. Das ist das Land, in dem ich meine Identität finde. Jetzt ist dieses Land Deutschland. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit, weil ich weder im Land meiner Vorfahren lebe, noch hier meine Muttersprache erlernt und meine volle Ausbildung bekommen und auch meine Freunde nicht allein hier gefunden habe. Ich wurde im Königreich Jugoslawien geboren. Nach dem Krieg waren wir die satanisierten Deutschen. Und als man uns 1949 die Bürgerrechte zurückgab, waren wir auch nur vor dem Gesetz gleichberechtigt, aber nicht in Wirklichkeit, was mehr meine Eltern zu spüren bekamen als ich. Es war ein großer Widerspruch, dass uns die Kolonisten als Fremde ansahen, obwohl sie und nicht wir zugezogen waren und sie in unseren konfiszierten Häusern wohnten. Ein Serbe, den ich von Kindheit an kannte, sagte mir einmal: “Stefan, wir waren der Meinung, die Kolonisten würden unsere Sitten und Gebräuche und unsere Art des Wirtschaftens annehmen. Es kam anders. Sie haben die wichtigsten Posten in der Politik und Verwaltung besetzt und uns ihre Sitten und Gebräuche übergestülpt.”
Ich bin jetzt zwar im Land meiner Urahnen, aber was ist mit meinen Landsleuten, die nach Amerika, Kanada oder Australien ausgewandert sind und dort eine neue Heimat gefunden haben? Oder mit den Bürgern des ehemaligen Jugoslawiens, die heute hier leben und arbeiten und von denen viele Deutschland als ihre neue Heimat betrachten? Im Jahr 2005 waren es rund 500.000 Serben und Montenegriner, inzwischen hat sich ihre Zahl verringert, weil ein Teil nach Serbien zurückgekehrt ist und ein Teil die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat. Schon daraus kann man ersehen, dass der Begriff Heimat einem ständigen Wandel unterworfen ist. Wir sind nicht mehr so eng an ein Land gebunden. Nur die Geschichte weiß, wo die Heimat meiner Vorfahren war. Wie werden meine Enkelkinder meine Heimat sehen und werden sie sie als ihre annehmen? Wenn die Weichen nach dem Weltkrieg für die Deutschen anders gestellt worden wären, wäre meine Heimat heute vielleicht Serbien. Deshalb müssen wir unsere persönliche Heimat sorgfältig bewahren. Wir sind in Wirklichkeit im Laufe unseres Lebens nur Gäste unseres jeweiligen Heimatlandes und verpflichtet, es unbeschädigt an unsere Nachkommen weiterzugeben. Die Geschichte lehrt uns, dass dazu nur Patrioten, aber keineswegs Nationalisten und Chauvinisten fähig sind.
Heute fahre ich in meine alte Heimat, um meine Freunde und Bekannten zu besuchen, um mich mit ihnen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zu unterhalten. Für immer würde ich nicht zurückkehren. Darauf hätte auch die Rückgabe des enteigneten Vermögens keinen Einfluss. Ich brauche das nicht. Wir haben uns in Deutschland wieder eine Existenz und Wohlstand aufgebaut. Hier sind meine Familie, unsere Kinder und Enkelkinder. Hier in Deutschland ist meine neue Heimat.
2011-02-26