Von Rosa Speidel
Bereits am 28. Januar 2011 erschien der erste Teil der donauschwäbischen Schriftstellerin (mehr über Rosa Speidel unter www.rosaspeidel.de).
Dieser erste Teil ist im Archiv unter Traumata oder Die verlorene Identität (Teil 1) abrufbar.
Es folgt noch ein dritter Teil.
Aus Datenschutzgründen Namen geändert und Lebensbilder chiffriert
Schicksalhaft ist auch die folgende Kurzbiographie des kleinen Seppi: _Er wurde als Zweijähriger mit seinem älteren Bruder und den Großeltern nach Gakovo verschleppt. Die Großmutter starb, die Mutter auch, der Großvater floh mit den beiden Jungen nach Deutschland. Der Vater der Kinder wurde aus russischer Gefangenschaft nach Deutschland entlassen, lernte eine Frau kennen, die nur den Mann wollte, nicht aber die Kinder einer anderen Frau, so dass Seppi und sein Bruder weiter beim Großvater lebten und nach dessen Tod bis zur Volljährigkeit in einem Kinderheim untergebracht wurden. Der große Bruder etablierte sich auf einem Bauernhof und heiratete dort ein. Auch für Seppi fand sich eine Lehrstelle. Da er aber nie gelernt hatte, sich gesellschaftlichen Regeln anzupassen, lebte er nach den Vorgaben seines Instinktes. Er konnte weder mit einem geregelten Arbeitsablauf und einem ständigen Wohnsitz, noch mit Eigentum umgehen. Gesetzeskonflikte waren vorprogrammiert. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, kümmerte sich von Amts wegen ein Bewährungshelfer um ihn. Dieses Kümmern beschränkte sich auf das wöchentliche Zuteilen finanzieller Unterstützung und die Erledigung der nötigen Formalitäten. Seppi hatte keinen festen Wohnsitz mehr. Eine Großtante übernahm sporadisch die Rolle der Betreuerin, wenn Seppi sie ab und zu besuchte. Oft ließ er sich wochen- oder monatelang nicht blicken. Niemand wusste, wo er war, er selbst am wenigsten. Zwischendurch verbrachte er längere Zeitabschnitte in der geschlossenen Psychiatrie. Als er entlassen wurde, hatte sich tief in seinem Inneren nichts geändert. Er war nach wie vor nicht fähig, sich gesellschaftlichen Normen anzupassen oder ein familiäres Umfeld als Stütze anzunehmen. Inzwischen hatte ihn die weitläufige Familie als Taugenichts und Hallodri abgestempelt. Mit einem verrückten Zuchthäusler wollte man nichts zu tun haben. Sein Bruder, der der einzige Anker hätte sein können, sagte sich von Seppi los. Er hatte ja zumindest nach außen hin eine Bleibe, ein eigenes Heim, gefunden, dessen Mauern aber keinen Störungen durch einen kranken Bruder hätten Stand halten können. Nachdem die bereits erwähnte Großtante gestorben war, tauchte Seppi endgültig unter. Er fehlte niemandem. Der kleine Seppi war ein Leben lang auf der Suche nach seiner Identität und starb fünfundsechzigjährig bei einem Verkehrsunfall. Seine Biographie wurde mit dem polizeilichen Abschlussprotokoll ad acta gelegt.
Wer kann schon ein positives Bild von sich selbst aufbauen, wenn er ein ganzes Kinderleben hindurch eingehämmert bekommt, er sei wertlos, sein Volksstamm zur Sklaverei verdammt und zur Vernichtung freigegeben. Jeder wünschte sich damals eine andere Identität, aber der Name verriet die Herkunft. Und in Deutschland angekommen, waren die ungeliebten, armen Flüchtlinge, deren deutsche Sprache eine fremde war, von oben auferlegter Ballast.
Die gestohlene Kindheit kann einem niemand zurückgeben. Alle Kinder und Jugendlichen der Kriegsgeneration mussten begreifen lernen, dass ihnen das Fundament zu einem gesunden Urvertrauen geraubt wurde. Wenn sie im Laufe ihres Lebens gelernt haben, dass sie an ihrem Schicksal keine Schuld tragen, musste sie diese Erkenntnis an den Rand existentieller Verzweiflung führen. Wie kann ein Kind überleben ohne das innere Bild einer stabilen Beziehung? Solche Nachkriegs-Seelenmorde forderten zahllose Opfer, deren Körper auch heute noch im Verborgenen dahinsiechen. Der Frevel der Gesellschaft und der Weltöffentlichkeit ist, dass die Täter nie bestraft wurden, dass die Verbrechen vielfach sogar bagatellisiert worden sind und es in manchen Köpfen immer noch werden.
Auf der Straße oder beim Einkaufen begegnete man nach dem Krieg häufig entnervten Müttern oder Vätern, die auf ihr schreiendes Kind einschlugen und noch lauter als das Kind wirst du wohl still sein! brüllten. Beide Seiten schrien sich in Ekstase. Der Schwächere strampelte, während der Stärkere prügelte. Niemand scherte sich darum, niemand mischte sich ein. Tägliche Ohrfeigen wegen Lappalien waren damals normal, und Schläge mit Stöcken, Kochlöffeln, Kleiderbügeln oder Hosengürteln mit anschließendem Arrest im Kohlenkeller bei Nahrungsentzug waren erzieherische Maßnahmen, bei denen sich weder Familienmitglieder noch Nachbarn einmischten. Es war allein eine Sache zwischen Täter und Opfer.
Sexuelle Belästigungen, ja sogar vereinzelt Vergewaltigungen von Lehrlingen und minderjährigen Mitarbeiterinnen in den Betrieben gehörten zu den geduldeten Verbrechen wie Prügel in der Schule, verabreicht von Lehrern und Pfarrern. Erzählten die Kinder zu Hause davon, bekamen sie nochmals Schläge vom Vater oder von der Mutter. Wären aber wider Erwarten vereinzelt Eltern mit der Aussage ihres Kindes an die Öffentlichkeit gegangen, so hätte man natürlich den Honoratioren, niemals aber den Kindern und Jugendlichen geglaubt. Die Familie hätte sich einen anderen Wohnsitz suchen müssen. Genau das kalkulierten die Täter bei ihrer Tat mit ein.
Heute redet kaum jemand darüber und wenn, nur hinter vorgehaltener Hand. Man möchte das Nest nicht beschmutzen, den Frevel am liebsten ungeschehen machen, also vergessen lassen. Aber Kinder vergessen nicht.
In diesem Zusammenhang sei auch die geistige Vergewaltigung, der Psychoterror der Täter im Umfeld des Opfers, angesprochen, bei dem zwar nicht körperlich abgestraft wird, dafür mit immer wiederkehrenden Verbalattacken an Verantwortung, Hilfsbereitschaft, Pflichtgefühl, Dankbarkeit appelliert, oder aber das Opfer zu kriminellen Handlungen gezwungen wird. Bringt das Opfer diese Leistungen nicht, so ist der gemeine Charakter des bösen Kindes daran schuld, dass es der Mutter schlecht geht, dass der Vater, der Vorgesetzte, der Lehrer nicht das bekommen, was sie fordern.
Da sich das Kind jedoch nichts sehnlicher wünscht, als dem Ideal des Täters zu entsprechen, also brav zu sein, um geliebt zu werden, oder aber sein Leben zu retten, bringt es die befohlene Unterwerfung, indem es sich selbst aufgibt. Es ist von seiner Unzulänglichkeit, seinem Böse-Sein, überzeugt und tut das, was von ihm verlangt wird. Auch wenn die Qual nur schwer zu ertragen ist, das Opfer ist überzeugt, dass es aushalten muss, weil es Strafe verdient hat. Es will seinen Körper nicht mehr, weil er böse ist, aber es kann ihn nicht abstreifen, also stellt es ihn zur Verfügung. Die Seele driftet dabei ab.
Häufig liegt es in der Hand des Täters, wie lange und auf welche Weise er sein Opfer missbraucht. Bei Schlägen kann es sein, dass die Schmerz- oder Angstschreie des Opfers dem Täter Genugtuung (Befriedigung) verschaffen. Sobald das Opfer aufhört zu schreien, keinen Widerstand mehr leistet, wird es für den Täter reizlos. Oder aber der Täter möchte, dass das Opfer zu schreien aufhört, und schlägt so lange zu, bis es schweigt.
Täter können weder abgegrenzt, noch verstanden werden, denn man sieht niemandem an, ob er ein Samariter oder ein Mörder ist. Die meisten Täter wirken scheinbar völlig normal, vielfach zeichnet sie sogar eine Art gesellschaftliche Rechtschaffenheit aus.
Selbst in Fachkreisen weiß man wenig über die Gefühle der Täter, denn sie können sich nicht vorstellen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, also werden sie ihr Handeln kaum freiwillig in Frage stellen, es sei denn, sie kommen mit dem Gesetz in Konflikt.
Was aber, wenn sie selbst das Gesetz vertreten?
Bei einer seelischen Erschütterung laufen alle Bilder erschreckend realistisch ab, beschwören somit die gleiche fundamentale Lebensangst herauf wie die ursprüngliche Tat. Diese Angst ist es, die sich auf Familie und Nachkommen übertragen kann.
Ein über siebzig Jahre alter Mann sagte, er sei auch heute noch in seinen Träumen häufig auf der Flucht und wache schweißgebadet mit rasendem Puls auf. Oft schlage er um sich, seine Frau wecke ihn stets mit den Worten bist du schon wieder auf der Flucht? Früher sei es noch viel schlimmer gewesen, seine Frau musste ihn mehrere Male in der Nacht wachrütteln, um ihn in die Gegenwart zurückzuholen. Auch spüre er noch manchmal die Partisanenpistole an seiner Schläfe. Diese Gefühle könne er nicht beschreiben, es sei schrecklich.
Auch die Kinder kennen die Alpträume des Vaters. Somit leben diese seelischen Erschütterungen in der Familie weiter, pflanzen sich in ihr fort. Die Mutter leidet seit Jahren an schweren organischen Störungen, deren Ursachen bis heute unerkannt sind und daher auch nicht wirkungsvoll therapiert werden können.
Eine Frau erzählte, ihr Vater sei vor dem Krieg der netteste Mensch gewesen, den man sich vorstellen könne. Nach einigen Jahren Gefangenschaft und Zwangsarbeit in Sibirien sei er als ein völlig anderer Mensch zurückgekommen. “Entweder saß er schweigend im Sessel, starrte auf den Boden oder er schrie, schlug um sich, sperrte uns Kinder in den Keller, prügelte mit Stöcken auf uns ein und bedrohte die Mutter, die uns helfen wollte. Die Mutter hat nur noch geweint. Unser Zuhause war zur Hölle geworden. Als der Vater nach kurzer Zeit starb, war das für uns alle eine Erlösung.”
Mit Entsetzen musste sie aber feststellen, dass ihr damals kleiner Bruder sich später innerhalb seiner eigenen Familie genau wie der Vater verhalten habe.
Maria G. entschied sich bewusst gegen Kinder. Zum einen könne sie überhaupt keine Beziehung zu Kindern aufbauen, zum anderen sei sie sicher, dass sie ihre Kinder ebenso misshandelt hätte, wie sie selbst von ihrer Mutter misshandelt worden sei, und so etwas wolle sie niemandem antun. Maria G. engagiert sich im sozialen Bereich, setzt sich für andere Menschen ein, aber sie ist nicht in der Lage, offen über die ihr angetane Gewalt zu sprechen. Privat steht sie wie ein scheues Reh irgendwo abseits, oder aber sie versteckt sich in der Masse. Richtig wahrgenommen werden möchte sie nach außen hin nicht, weil sie glaubt, sie sei viel zu unbedeutend. Tief im Inneren sehnt sie sich jedoch nach Anerkennung und Wertschätzung. “In mir leben zwei völlig verschiedene Menschen, die ständig miteinander um die Vormachtstellung kämpfen”, sagt Maria G. von sich selbst.
Eine Frau, die in den 1950er Jahren in Deutschland geboren wurde, deren Mutter aber zwischen 1944 und 1948 Grausames erlebt haben musste, bezeichnet sich selbst als schwer traumatisiert. Sie trage das Leid der Mutter ein Leben lang mit, büße für ein Vergehen, das weder sie noch ihre Mutter begangen hat.
Die Mutter gab Gewalt, Erniedrigung, Schmerz, Angst, Ekel vor sich und den anderen so an die Tochter weiter, wie sie diese selbst erlebt hat. Aus Sicht der Mutter war die Tochter für alles verantwortlich, was schief gelaufen war. Die Mutter sah in der Tochter die vermeintlich Schwächere, nämlich sich selbst. Sie fühlte sich einerseits als (ehemaliges) Opfer, andererseits spürte sie den Täter dermaßen leibhaftig, dass sie schreien, zuschlagen, quälen musste, um sich selbst zu bestrafen, denn sie hatte die Strafe verdient. Das Gefühl der vergewaltigten Frau bekommt eine abstrakte Realität, die diese Frau als Mutter dazu zwingt, sich exakt so verletzend zu verhalten wie sich der Täter beim Missbrauch ihr gegenüber verhalten hatte. Allein mit ihrer Gegenwart erinnerte die Tochter die Mutter an unsägliche Qualen. Da aber der eigentlich Schuldige, der Täter, zu keiner Zeit fassbar war, projizierte die Mutter die Schuld auf die Tochter. Nie wäre die traumatisierte Mutter auf die Idee gekommen, eigenes Verhalten in Frage zu stellen (Opfer wird zum Täter, Täter ist sich keiner Schuld bewusst).
Brigitte G. musste in Gakovo als Kleinkind viel Gewalt und Brutalität über sich ergehen lassen. Sie sagte u.a.: “Als zwanzig Jahre später mein Kind zur Welt kam, zitterte und zuckte es am ganzen Körper. Ich streichelte das winzige Wesen und weinte. Das Kind tat mir unsäglich leid, denn ich glaubte, es sei behindert. Die Hebamme tröstete mich, das Bibbern gehe vorbei, sagte sie, es komme manchmal bei Babys vor, deren Mütter vor irgendetwas große Angst haben. Und sie fragte mich, wovor ich Angst hätte. Erst jetzt fiel mir auf, dass mein Baby genauso bibberte wie ich als Kleinkind in Gakovo.
Ich habe meine Kinder nie geschlagen. Zu präsent waren die Schläger meiner eigenen Kindheit, und ich wollte niemals in die Rolle dieser übermächtigen Tyrannen schlüpfen. Sie ekeln mich an. Ich kriege heute noch Gänsehaut.”
Fortsetzung folgt
2011-02-16