Von Rosa Speidel
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Wer traut sich schon, offen über seine seelischen Wunden zu sprechen oder gar zu schreiben. Zu groß ist die Scham, zu eng der Tellerrand der Gesellschaft. Traumatisierte Menschen haben ein labiles Selbstbewusstsein, und sie fühlen sich ein Leben lang schuldig.
Relativ neu ist die Erkenntnis, dass sich Traumata über Generationen hinweg übertragen können. Legt man diese Beurteilung zugrunde, sind die Traumata der Nachfahren vergewaltigter Mütter und gefolterter Väter treffender zuzuordnen, ebenso das vermeintliche Fehlverhalten vielen Kinder und Jugendlichen der Nachfolgegenerationen.
Kaum jemand kann sich heute vorstellen, welche nachhaltigen Einwirkungen Folter, Vergewaltigung und Gefangenschaft auf die Psyche eines Menschen haben können. Daher ist von der Gesellschaft auch wenig Verständnis zu erwarten, im Gegenteil: die Öffentlichkeit (ver)urteilt schnell. Seelisch Verwundete gelten (leider) immer noch als nicht gesellschaftsfähig. Die Gründe dafür sind vielfältig. Meist ist es die Unsicherheit im Umgang mit Menschen, die der kollektiven Norm scheinbar nicht entsprechen, aber auch das Dogma selbst auferlegter Ehrenhaftigkeit lässt wenig Spielraum für Toleranzen. Wer keine Massaker, keine Brutalität miterlebt hat, ist oft davon überzeugt, in ähnlicher Situation mutiger oder schlauer zu handeln. Damit schiebt er dem Opfer zwangsläufig die Schuld zu. Nicht selten geht die Öffentlichkeit mit den Opfern härter ins Gericht als mit den Tätern. Zumal die Täter, z.B. bei politisch organisiertem Massenmord, national und international angesehene Persönlichkeiten oder Gruppen sein können, die mancherorts als Helden verehrt werden und als verdiente Staatsmänner in Geschichtsbüchern stehen. Bezeichnend hierfür sind die Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien, deren Auswüchse auch heute noch in vielen Köpfen wuchern.
Obwohl sich Opfer meist irgendwie schuldig fühlen, sind sie eher bereit, über das Erlebte und die damit verbundenen Seelenqualen, vor allem die stets präsenten Ängste, zu sprechen. Täter hingegen stellen ihr Verhalten selten in Frage.
Da Traumata kein absolutes Tabu mehr sind, werden zunehmend mehr verdeckte grausame Delikte angeprangert. Man wagt es mittlerweile auch, vertuschte Staatsverbrechen und folgenschwere Fehlverhalten (asoziale Diplomatie) honoriger Volksvertreter offen zur Diskussion zu stellen.
Ein Trauma entsteht, wenn das Opfer hilflos einer quälenden Übermacht ausgeliefert ist. Diese Übermacht können sowohl Naturkatastrophen als auch Menschen sein. Die Bedrohung für Leib und Leben ruft Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und damit Kontrollverlust hervor. Wenn das Opfer unerwartet angegriffen, in die Enge gedrängt oder bis zum Zusammenbruch gequält wird, ist auch eine psychische Schädigung unausweichlich. Ebenso bei seelischen Foltern, wie extremer Gewaltanwendung zusehen oder den grausamen Tod anderer mit ansehen müssen. Das Erlebte löst Ratlosigkeit und Daseinsangst aus. Wenn weder Widerstand noch Flucht möglich sind, ist der Selbstschutz des Menschen überfordert und bricht zusammen. Diese Erfahrungen bewirken tiefgreifende und langwierige Veränderungen der Gefühle und der Wahrnehmung. Entweder das Erinnerungsvermögen blendet aus oder aber, es erinnert sich an jedes Detail, empfindet aber nichts. Der komplizierte psychische Abwehrmechanismus ist gestört. Die Identität zerfällt.
Die traumatisierte Erinnerung besteht häufig aus Einzelbildern. Entsprechend abgehackt taucht sie auf. Die Urangst raubt jedes Fundament. Das Opfer spürt die gleiche Angst wie damals. Manchmal bedarf es nur eines bestimmten Wortes, einer Geste, einer Stimmlage, eines Geruches, einer Situation, und schon ist das Trauma gegenwärtig. Das Opfer reagiert unbewusst und ungewollt. Diese Reaktionen werden vom Umfeld völlig missverstanden, und das Opfer fühlt sich erneut in die Enge getrieben, verspürt Schuldgefühle und Scham. Der Drang, sich zu verbergen, nicht wahrgenommen zu werden, jemand anderer sein zu wollen, oder aber gar nicht mehr da zu sein, ist ebenso groß wie die Wut gegenüber jedermann und sich selbst.
Es spielt keine Rolle, ob die Gewalt sexueller, physischer oder psychischer Art ist. Die Seele macht da keinen Unterschied. Der Schmerz wird zum Schock und dieser nimmt den ganzen Menschen ein, der Vergewaltigte wird dadurch schmerzunempfindlich. Gut, wird der Unbeteiligte denken, dann spürt er ja nichts mehr. Er spürt aber auch sich selbst nicht mehr, und das ist das Fatale. Denn das Opfer muss sich immer wieder daran erinnern, um zu glauben, dass es vorbei ist. Es muss dem Trauma eine Handlung zuordnen, einen Zusammenhang mit den Geschehnissen drum herum, um dadurch eine Beziehung zu anderen Menschen und zur Gesellschaft aufbauen zu können.
Nach dem Krieg war die Gesellschaft aber alles andere als gefestigt. Jeder der überlebt hatte, kämpfte weiter ums Überleben. Für Seelennöte gab es keinen Platz. Also schämten sich die Opfer latent weiter, und wenn das Verdrängen nicht mehr zu ertragen war, flüchteten sie in eine Welt der Phantasie, blieben dort so lange bis sie glaubten, es sei vorbei. Manche kamen nicht wieder zurück, und die nannte man Verrückte oder Taugenichtse. Man distanzierte sich von Ihnen, hatte Mitleid. Aber Mitgefühl? Nein, Mitgefühl gab es nach dem Krieg nicht, weder das Wort noch das Gefühl, denn fast alle hatten mit individueller Ambivalenz zu kämpfen.
Was passiert: wenn ein Kind mit ansehen muss, wie Menschen zusammengeschlagen werden, wenn es zuschaut, wie halb nackte Skelette Blut überströmt ein Loch graben und dann von Uniformierten in dieses Loch hineingeschossen werden, wenn die Erinnerung vor Dreck und Ungeziefer strotzt, wenn es nachts mit der Großmutter an den Wachen vorbeischleichen muss, um bei umliegenden Bauern nach Brot zu betteln, wenn Hunde auf Großmutter und Kind gehetzt werden?
Im Leben dieses Kindes bellt die Hundehorde weiter. Die Läuse, Wanzen und Flöhe, der Dreck, die Exkremente in den Behausungen, der Gestank faulender Körper in den Scheunen, die Schreie der Gepeinigten, die Schreie der Peiniger und dazwischen immer wieder Schüsse, Qual, Demütigung, Schläge, Wut und Aggression, die das eigene Schuldgefühl überdecken: all das wird es nie mehr los.
“Nachts kamen die Lagerwachen. Wir hörten sie schon, bevor sie zum Tor hereinstürmten. Betrunken, grölend, traten sie mit den Stiefeln gegen unsere Tür und hielten uns die Gewehre vor die Nase. Ich sehe noch heute den Gewehrlauf vor meinem Gesicht, in meinen Träumen wird er zum riesigen Loch, das mich aufsaugt, oder zur hämischen Fratze, die meinen Untergang signalisiert.
Ich höre noch heute die entsetzlichen Schreie jener Frauen, die von den besoffenen Bestien mitgezerrt wurden: Nein, nein, nein! schrien sie, Hilfe, so helft mir doch!
Auch ich schrie mit diesen Frauen wie am Spieß. Meine Großmutter presste mir ihre Hand auf Mund und Nase, bis ich fast erstickte. Ich zitterte am ganzen Körper, auch wenn es nicht kalt war. Ich zitterte noch Jahre danach. Der Gestank nach Dreck, Urin und Schnaps, den diese Männer ohne Gesicht ausdünsteten, rieche ich immer dann, wenn ich betrunkene Männer grölen höre. Ich höre noch heute die Stiefeltritte, und manchmal warte ich darauf, dass es am Tor kracht. Ich weiß genau, wie sich das anhört, wie die Angst sich anfühlt. Ich weiß aber auch, dass niemand mehr unsere Haustüre eintreten wird. Merkwürdigerweise habe ich im Freien oder im Wald selbst bei tiefster Dunkelheit keine Angst. Ich liebe dieses barrierefreie Unsichtbare.”
Traumatisierte Menschen erleben die traumatischen Momente nicht nur in Gedanken und Träumen immer wieder, sondern auch in ihren Handlungen. Traumatisierte Kinder spielen anders als normale Kinder, sie spielen das, was sie erlebt haben. Wenn ein Kind mit ansehen musste, wie seine Mutter geschlagen und vergewaltigt wurde, wenn diese Mutter vor Angst schrie: das sind die Momente, die dieses Kind nie vergessen wird. Es wird die Schläge, die Schreie abermals hören und es wird die fremden Männer als lebensbedrohliche Monster wahrnehmen, gegen die es sich nicht wehren kann. Es weiß ganz genau wie sie brüllen, wie sie stinken und wie sie zuschlagen.
“Ich hatte im ersten Schuljahr in Jugoslawien einen einzigen deutschen Klassenkameraden. Auch er überlebte Gakovo mit seiner Großmutter. Dieser Junge redete fast nie, und wenn, dann stotterte er so sehr, dass ihn kaum jemand verstand (der Junge musste in Gakovo mit ansehen, wie seine Mutter mehrfach vergewaltigt wurde, die Mutter überlebte nicht).
Da auch mir damals das Sprechen aus dem Kopf geschlagen worden war, spielten wir an schulfreien Nachmittagen im Hanflager der Fabrik stundenlang schweigend “Blut saugen” oder “Kopf an die Wand”, was heißen soll: sich selbst das Blut aus dem Oberarm saugen oder sich verletzen und das Blut aus der Wunde lutschen - oder aber, mit dem Oberkörper vor einer Wand schaukelnd, den Hinterkopf gegen die Wand hauen, bis der Schmerz nicht mehr zu ertragen war.
Wenn ich diese Bilder auferstehen lasse, vibriert die Wand in mir, ich spüre aber keinen Schmerz dabei. Nur wenn ich die beiden einsamen Kinder betrachte, tut’s unbeschreiblich weh.
Los spuckt sie an, sie ist eine Schwabiza, spuckt sie an! Ich weiß ganz genau, wie sich fremde Spucke im eigenen Gesicht anfühlt, und Fußtritte im Bauch, wenn man auf dem Boden liegt. Es war 1950, ich ging in die zweite Klasse. In der Pause wurde ich im Schulhof verspottet, niedergeschlagen und angespuckt. Und wenn ich total verdreckt von der Schule nach Hause kam, setzte es weitere Schläge, denn ich hatte mich ja schmutzig gemacht.”
So stülpten sich die Traumata der Erwachsenen über die der Kinder und wurden für sie zu einer kaum zu bewältigenden psychischen Belastung, derer sich damals niemand bewusst war. Ob sich dies inzwischen tiefgreifend geändert hat?
Fortsetzung folgt
2011-01-28