Ungarndeutsche Organisationen:
Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (Magyarországi Németek Országos Önkormányzata ), Geschäftsstelle, Júlia u. 9, H-1026 Budapest, Tel.: +36-1-212 9151,
ldu@ldu.datanet.hu
www.ldu.hu
Ungarndeutsche Kultur- und Museumseinrichtungen:
Nationalitäten-Schulzentrum “Valeria Koch”,
www.dus.sulinet.hu
Donauschwäbisches Zentralmuseum, Schillerstr. 1, D – 89077 Ulm, Tel.:+49-731-96254-0,
www.dzm-museum.de
Ungarndeutsche Zeitungen:
Neue Zeitung, Pf. 224, H-1391 Budapest, Redaktion: Budapest, Lendvay Str. 22. , Tel.: +36-1- 302 67 84,
neueztg@hu.inter.net,
www.extra.hu/neuezeitung
Fünfkirchen
Kulturhauptstadtjahr : Pécs 2010 Management Centre, Maria str. 9, H – 7621 Fünfkirchen/Pécs,
www.pecs2010.hu
Gündisch, Konrad/Roth, Harald: Fünfkirchen/Pécs – Geschichte einer europäischen Kulturhauptstadt, Wien 2010
“Die Vertreibung des deutschen und jüdischen Bürgertums Fünfkirchens war der schwerste Schlag in der Stadtgeschichte”, sagt Dr. Gabriel Frank und schaut mit traurigen Augen in einem Klassenzimmer seiner Valeria-Koch-Schule umher. Frank ist seit 1992 Direktor dieses am Rande des südungarischen Fünfkirchens (Pécs) gelegenen “Nationalitäten-Schulzentrums” der ungarndeutschen Minderheit. Der moderne Zweckbau bietet Platz für 750 Schüler, die über eine Grundschule mit den Klassenstufen 1 bis 8, ein Gymnasium und ein Schülerwohnheim verfügen. Zwei naheliegende Kindergärten, die ebenfalls zur Valeria-Koch-Schule gehören, machen das Bildungsangebot in deutscher und ungarischer Sprache vollständig. Die Hälfte der Fächer (Geschichte, Erdkunde, Umweltkunde, Mathematik, Biologie und Informatik) werden ausschließlich auf deutsch unterrichtet. Darüber hinaus vermittelt die “Kunde der Ungarndeutschen” fächerübergreifend eigene kulturgeschichtliche Identität.
Die Schule wird vom Staat bezahlt, jedoch von der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen getragen. Diese stützt sich auf die im Jahr 2000 gesetzlich festgeschriebene Möglichkeit, daß anerkannte Minderheitenorganisationen Schulen oder andere kulturelle Einrichtungen übernehmen können. Der Name ist Programm: Valeria Koch (1949-98) war eine hochbegabte Dichterin, die zwar einer sogenannten donauschwäbischen Familie entstammte, sich ihre Muttersprache nach der auf das Jahr 1945 folgenden Politik der Zwangsmadjarisierung jedoch erst mühsam aneignen mußte. Ihre Eltern hatten sich ähnlich verhalten wie der Großteil der heimatverbliebenen Ungarndeutschen (knapp die Hälfte der vor dem Krieg 400 000 Deutschen in dieser Südostecke Mitteleuropas war vertrieben worden): Sie hatten auf die Verwendung des von den ungarischen Kommunisten rigoros aus dem öffentlichen Raum verbannten Deutschen teilweise verzichtet und aus Furcht vor Unannehmlichkeiten das eigene nationale Bewußtsein de facto schrittweise aufgegeben. Direktor Frank sieht in Valeria Kochs dichterischem Erfolg einen Beleg dafür, daß es für die Ungarndeutschen trotz dieser bis heute fortwirkenden Sprachlosigkeit noch immer möglich ist, die Zukunft als eine von 13 offiziell anerkannten Minderheiten in der Republik Ungarn auf ein eigenes kulturelles Fundament zu bauen. Allein im Raum Fünfkirchen leben immerhin noch zwischen 50 000 und 60 000 Ungarndeutsche.
Frank, der zugleich Vorsitzender der deutschen Minderheitenselbstverwaltung Fünfkirchens ist, kennt natürlich die großen Schwierigkeiten, die zu überwinden sind. So war es für ihn “sehr enttäuschend”, als die Ergebnisse der Volkszählung von 2001 eine weitaus geringere Zahl bekennender donauschwäbischer Einwohner seiner Stadt ergaben als die erwarteten mindestens zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei der Zählung war differenziert nach nationaler, kultureller und sprachlicher Zugehörigkeit gefragt worden. Von den 160 000 Einwohnern erklärten 3000 Personen, deutscher Nationalität zu sein, 4000 fühlten sich als Teil einer deutschen Kulturgemeinschaft und nur 1500 bezeichneten sich als deutsche Muttersprachler.
Unterhält man sich mit Angehörigen der in ihren pfälzischen, schwäbischen oder hessischen Dialekten schwätzenden älteren Generation, so ist das Fortwirken überlieferter Madjarisierungstraumata zu spüren. Die schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnenen rücksichtslosen Assimilationsversuche aller nicht-madjarischen Ethnien im ungarischen Reichsteil der Donaumonarchie hatte eine kulturelle Selbstaufgabe des aufstiegswilligen ungarndeutschen Stadtbürgertums zur Folge sowie beim Gros der Volksgruppe eine resignativ-ängstliche Haltung nach dem Motto: Warum sollen wir um unsere Eigenart kämpfen, wenn wir sowieso auf aussichtslosem Posten stehen und es nur Nachteile bringt? Das Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Ausweisung oder Verschleppung der Hälfte aller Ungarndeutschen durch die Kommunisten sowie die jahrzehntelange staatliche Negativ-Propaganda gegen alles Deutsche taten ein Übriges.
Werbung für Nationalitätenschulzentrum der deutschen Minderheit in Fünfkirchen
Die vor allem bäuerlich geprägten heute noch etwa 220 000 heimatverbliebenen Ungarndeutschen empfinden zwar in der Regel ihre Eigenart, aber um die Deutschkenntnisse steht es bei der mittleren und jüngeren Generation schlecht. Schätzungen besagen, daß nur zwischen 15 und 20 Prozent der Minderheit die Muttersprache richtig können und gebrauchen. Sich die Sprache der Eltern und Großeltern wieder anzueignen, sie also übers vertiefte Fremdsprachenniveau hinausgehend zu erlernen, erscheint sehr vielen als unnötiger Kraftakt. Der hohe Stellenwert des Deutschen gerade in Ungarn sowie die Bedeutung der Beziehungen des Landes zur Bundesrepublik Deutschland sowie zu Österreich ändern daran wenig. Selbst so manche Aktivisten der deutschen Minderheit lassen ihre eigenen Kinder das Deutsche nicht einmal in der Schule erlernen, von einem alltäglichem Aufwachsen mit der Muttersprache ganz zu schweigen. Dabei gibt es neben dem Valeria-Koch-Schulzentrum mit dem Klara-Löwey-Gymnasium sogar eine weitere Schule, die über einen deutschen Nationalitätenklassenzug verfügt, dessen quantitative Bedeutung allerdings seit Jahren schrumpft. Vor dem Hintergrund einer solch tiefgreifenden Anpassungsbereitschaft verpuffen ehrgeizige Absichten, wie sie sich in der Einleitung des europaweit einzigartigen ungarischen Gesetz über kollektive Minderheitenrechte von 1993 wiederfinden: “Ziel dieses Gesetzes ist die Formulierung und Schaffung von Voraussetzungen, durch welche die Möglichkeit geboten wird, dem Assimilationsprozess der Minderheiten Einhalt zu gebieten bzw. diesen rückgängig zu machen.”
Das traditionelle Vereinsleben in den Dörfern mit einem erheblichen donauschwäbischen Bevölkerungsanteil (Chöre, Volkstanzgruppen, Blasmusikkapellen usw.) floriert. “Das wahre ungarndeutsche Leben spielt sich in den Dörfern ab”, betont Zoltán Schmidt vom in Fünfkirchen ansässigen Regionalbüro der ungarndeutschen Selbstverwaltung des Komitats Branau (ungar. Baranya). In dieser Hinsicht gibt es in Orten wie Nadasch, Altglashütte oder Ohfala keine Nachwuchssorgen, anders dagegen bei den politischen Vertretungen. Dabei bieten die mit dem Minderheitengesetz von 1993 eingerichteten Minderheitenselbstverwaltungen erhebliche Chancen zur gemeinschaftlichen Interessensicherung. Aus Rücksicht auf die erwähnten Ängste ist dort das Prinzip der freien Identitätswahl festgeschrieben, das heißt, jeder Bürger kann jene Selbstverwaltungsorgane mitwählen, denen er sich in nationaler Hinsicht zurechnet. Sobald mindestens ein Drittel der gewählten Vertreter einer Kommune einer bestimmten Minderheit angehören, für deren Kultur sie sich zuvor bereits eingesetzt hatten bzw. für die sie auf einer speziellen Liste kandidierten, ist der Weg frei für die neue lokale Interessenvertretung – sei es in einer indirekten Form, sprich: als Teil der örtlichen Selbstverwaltung oder direkt mittels paralleler Strukturen. Die Gesamtheit der kommunalen Volksgruppengremien wiederum bestimmt über Wahlmänner eine landesweite Selbstverwaltung, wobei auch Ortschaften mit je einem Vertreter repräsentiert sind, in denen weniger als 30 Prozent Zustimmung erzielt wurden. Allein in der Branau gibt es gegenwärtig 102 Gemeinden in donauschwäbischer Selbstverwaltung.
Doch was hilft es, wenn bei den ersten Wahlen zu den Minderheitenselbstverwaltungen im Jahr 1994 landesweit 800 000 Stimmen für ungarndeutsche Vertreter abgegeben wurden (also auch sehr viele Madjaren diese unterstützten), wenn vier Jahre später die Zahl von 163 Selbstverwaltungen noch einmal leicht erhöht werden konnte und heute immerhin 370 ungarndeutsche kommunale Gemeinschaften bestehen, wenn sich auf dem langfristig entscheidenden Feld der Sprachpolitik kaum Fortschritte zeigen? Das Recht auf muttersprachlichen Unterricht steht zwar als Grundrecht in der Verfassung, aber es muß auch lautstark genug eingefordert und in der Praxis durch Behebung der Defizite bei der Lehrerausbildung und -finanzierung eingelöst werden. Die mehr oder weniger minderheitenfeindlichen Einstellungen eines Großteils des Staatsvolkes sind durch Hartnäckigkeit und Argumentationsgeschick – beispielsweise durch ständige Hinweise auf die hohen Standards, die die Budapester Politik für die Auslandsmadjaren einfordert, – zu überwinden. Doch hierfür fehlt vielfach das geeignete Personal, oder die behördlichen Hemmnisse sind einfach (noch) zu groß. Etwa beim Thema eines auch deutsch beschrifteten Ortsschildes von Fünfkirchen, wie es von der Minderheitenselbstverwaltung seit Jahren angestrebt wird und wie es auf dörflicher Ebene längst üblich ist.
Nicht zuletzt mangelt es heute an Unterstützung aus dem binnendeutschen Raum. Gab es kurz nach der Wende noch rund 200 bundesdeutsche Lehrkräfte in Ungarn, die unterstützend tätig waren, so sind es mittlerweile ganze 30. Das deutsche Generalkonsulat in Fünfkirchen, das wegen der Bedeutung dieser Stadt als kulturelles Zentrum der Donauschwaben von erheblicher praktischer wie symbolischer Bedeutung war, wurde unter Außenminister Joseph Martin Fischer dichtgemacht. Und das, obwohl József alias Jóska/Joschka Fischer selbst einer ungarndeutschen Familie entstammt, die 1946 ihren Heimatort Wudigess (Budakeszi) bei Budapest verlassen und nach Deutschland aussiedeln mußte. Dennoch ließ der Spitzenpolitiker der Grünen im Zusammenhang mit einem Ungarn-Besuch lediglich verlauten, daß sein Vater und er bei der Fußballweltmeisterschaft von 1954 beim Endspiel gegen Deutschland der ungarischen Mannschaft mit Kapitän und Stürmerstar Ferenc Puskas die Daumen gedrückt hätten. Über seine bis heute in Ungarn lebende deutschstämmige Verwandtschaft verlor er damals ebenso kein Wort wie über die Tatsache, daß das madjarische Idol Puskas – wie viele andere berühmte “Ungarn” – deutscher Herkunft war, eigentlich “Purzer” hieß und in der legendären Mannschaft von 1954 den Spitznamen “Schwab” führte.
Auch diese Episode ist bezeichnend für die realpolitisch und bewußtseinsmäßig keineswegs günstige Ausgangslage für die ungarndeutsche Volksgruppe. Gabriel Frank vermag dies in seinem grundsätzlichen Optimismus jedoch kaum zu erschüttern. Der Leiter des für seinen Vorbildcharakter auch international bekannten, 1985 gegründeten zweisprachigen Valeria-Koch-Schulzentrums weist auf die Attraktivität der Einrichtung hin, die sich in einer stetig wachsenden Nachfrage spiegele, die – auch das sei ein äußerst erfreuliches Signal – in den beiden Kindergärten am größten ausfalle. Die hohen Erfolgsquoten bei den Prüfungen zum deutschen Sprachdiplom oder der gut funktionierende Austausch mit verschiedenen Partnerschulen im deutschsprachigen Ausland (u. a. in Bayern und der Steiermark) sprächen sich herum, so Frank. Bei seinen Oberstufenschülern sei ein “sehr lebendiges Identitätsgefühl” festzustellen.
Tatsächlich wird das Deutsche für die Heranwachsenden zwar nie mehr die selbstverständliche Mutter- und Alltagssprache sein, wie noch für die Großelterngeneration, deren überlieferte Dialekte aussterben. Doch während die mittlere Generation als Sprecher des Deutschen gezwungenermaßen fast ausfiel, ist dieses für viele Jüngere – wohl auf Dauer – eine auf hohem Fremdsprachenniveau gepflegte Brücke zur eigenen donauschwäbischen Identität. Die deutsche Sprache ermöglicht den Berufseinstieg bei deutschen wie österreichischen Firmen bzw. den begehrten längeren Aufenthalt im deutschsprachigen Ausland, und sie ist auch in einem gut ausgebauten Netz eigener Medien präsent: von der in Budapest erscheinenden Neuen Zeitung, über die bereits 1956 ins Leben gerufenen Radioprogramme der Minderheit bis hin zu der seit 1978 ausgestrahlten Fernsehsendung “Unser Bildschirm”. Steigende Bedeutung kommt den aus Deutschland zu empfangenden Satellitenprogrammen zu. Das inhaltliche Niveau dieser Privatsender läßt zwar zu wünschen übrig, dennoch sind sie vielleicht die effektivsten “Deutschlehrer”. Außerdem gibt es eigene Berufsvertretungen wie den “Verband der Ungarndeutschen Autoren und Künstler” und eine Nachwuchsorganisation “Gemeinschaft Junger Ungarndeutscher”. Als vor einigen Jahren im Hof des Fünfkirchener “Nikolaus-Lenau-Hauses” ein Denkmal zur Erinnerung an die Massenvertreibung der Donauschwaben aufgestellt wurde, entschuldigte sich der ungarische Staat nicht nur hochoffiziell für die seinerzeitigen Verbrechen, sondern erteilte allen während der kommunistischen Ära den Deutschen unterstellten Kollektivschuldvorwürfen eine Absage.
Gründerzeitliche Prachtentfaltung: Bürgerhäuser mit donauschwäbischen Spuren gibt es in Fünfkirchen zuhauf
Die Geschichte und auch die Landschaft bieten vielfältige Bezugsmöglichkeiten zu den deutschen Spuren. Schon jene aus verschiedenen deutschen Regionen stammenden Bauern und Handwerker, die zwischen 1686 und 1829 in drei größeren und mehreren kleinen “Schwabenzügen” in das von der Türkenherrschaft befreite, weitgehend entvölkerte Pannonien kamen (insgesamt schätzungsweise 150 000 Deutsche), fühlten sich in ihren Zielgebieten wohler als das Steppenvolk der Madjaren. Sowohl die Branau als auch die benachbarte Tolnau unterscheiden sich kaum von deutschen Mittelgebirgsregionen (ähnliches gilt für das Ofener Bergland und das Schildgebirge im Westen von Budapest, wo sich ebenfalls viele Donauschwaben niederließen). Noch während des ganzen 18. Jahrhunderts waren die Deutschen in Fünfkirchen in der Mehrheit, und bestimmte Berufsgruppen wie die Handwerkerschaft blieben noch für lange Zeit eine donauschwäbische Domäne.
Bedeutende Persönlichkeiten wie der Wiener Dombaumeister und Neugestalter der Fünfkirchener Kathedrale, Freiherr Friedrich von Schmidt (1825-91), oder die vielen schmucken Häuser wohlhabender donauschwäbischer und – mit der deutschen Kultur aufs engste verbundener – jüdischer Bürger der späten k.u.k-Ära prägten und prägen das Stadtbild. In der als katholische Kirche genutzten Moschee des Paschas Gasi Khasim am zentralen Széchenyi tér werden an Sonntagen auch deutschsprachige Gottesdienste gelesen, ja der seit 1989 amtierende Bischof Mihály Mayer ist selbst Angehöriger der Minderheit, der auch zu Hause deutsch spricht. Bei einem Empfang in den prächtigen Räumen der Bischofsresidenz berichtet er von den überraschten Reaktionen, als bei seinem Amtsantritt 1989 bekannt wurde, daß der neue geistige Oberhirte einen deutschen Familiennamen trägt. Früher, also vor 1945, sei zwar ein gutes Viertel aller Priester in der Diözese donauschwäbischer Herkunft gewesen, diese hätten aber stets madjarisierte Namen gehabt. Bischof Mayer, dessen Familie zum großen Teil bei der Vertreibung des Jahres 1945 umgekommen war, betont die multiethnische Prägung der Branau. Dort gebe es nicht nur viele deutsche, sondern auch ein bis zwei rein kroatische Dörfer, und auch die madjarischen Vertriebenen aus der Slowakei (dem einstigen “Oberungarn”) oder der Bukowina wiesen bis heute ihre kulturellen Eigenheiten auf. “Wir leben in Ungarn, aber nicht im Madjarenland!” sagt er unmißverständlich, fordert von der tendenziell “atheistischen” Budapester Politik eine stärkere Berücksichtigung kirchlicher Interessen und wettert “ganz undiplomatisch” gegen die einseitig materielle Ausrichtung des heutigen EU-Europas.
Der Komitatsrat der Branau hat eine Stiftung für Minderheitenforschung geschaffen. An der Universität Fünfkirchen, die mit ihren 35 000 Studenten und rund 6000 Angestellten nicht nur die älteste, sondern auch die größte des Landes ist, wurde an der medizinischen Fakultät ein deutschsprachiger Zweig eingerichtet, der bereits 400 Studenten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angelockt hat, deren Semestergebühren der öffentlichen Hand zugute kommen. Des weiteren wurde im Februar 2007 auf ungarische Initiative eine “Stiftungsprofessur der Bundesrepublik Deutschland für deutsche Geschichte und Kultur im südöstlichen Mitteleuropa” gegründet. Lehrstuhlinhaber ist Prof. Gerhard Seewann, unterstützt von Dr. Zsolt Vitári. Letzterer sieht die Zukunft für die ungarndeutsche Minderheit grundsätzlich positiv. Es werde zwar “nie mehr wie früher” sein, also vor der “inneren Vertreibung der Heimatverbliebenen”, aber die kulturelle Substanz der Donauschwaben werde dank der verbesserten Rahmenbedingungen auch “nicht verschwinden”. Zwar habe man noch vor einiger Zeit in der Alltagssprache auch jüngerer Angehöriger der Volksgruppe eine erhebliche Vermischung deutscher und ungarischer Ausdrücke beobachten können, der mittlerweile ein “genereller Übergang zum Ungarischen” gefolgt sei, doch “Identität ist mehr, als eine eigene Sprache zu haben”.
Jedenfalls könne an seiner Universität, so der 33jährige Vitári, ein nachhaltiges Interesse – nicht nur deutschstämmiger Studenten – an der Geschichte der Deutschen im südöstlichen Mitteleuropa festgestellt werden; die meisten Veranstaltungen des Lehrstuhls seien voll. Zwischen zehn und zwölf Prozent aller historischen Diplomarbeiten in Fünfkirchen würden zu Minderheitenthemen verfaßt (vor allem zum deutschen und jüdischen Bevölkerungsteil). Selbst jene Seminare, die in deutscher Sprache abgehalten werden, stießen wider Erwarten auf regen Zuspruch. Zsolt Vitári, der selbst Ungar ist, aber am deutschen Nationalitätenzweig des Loewey-Gymnasiums die Schule besuchte und eine Donauschwäbin heiratete, unterstreicht seine Zuversicht mit einer Familienanekdote: Als er beim Valeria-Koch-Gymnasium nachgefragt habe, mit welchem Vorlauf ein Kind gegebenenfalls an dieser Schule anzumelden sei, lautete die Antwort: “Am besten noch vor der Geburt!”
Denkmal zur Erinnerung an die Massenvertreibung der Donauschwaben im Hof des Fünfkirchener “Nikolaus-Lenau-Hauses”
Doch ein solcher Optimismus ist sowohl unter Ungarndeutschen wie innerhalb der Staatsnation derzeit die Ausnahme. Die anhaltende Wirtschaftskrise, die die Republik Ungarn kürzlich bis an den Rand des Staatsbankrotts brachte, hat Zukunftsängste und bei den jüngeren Akademikern vielfach auch Abwanderungsabsichten zur Folge. Gerade die studentische Generation ist von tiefem Mißtrauen in die Zukunftsfähigkeit der lokalen wie der nationalen Politiker bestimmt. “Es gibt keinen Politiker, dem man wirklich trauen kann”, klagt Nora Aczel. Die 25jährige ist donauschwäbischer Abstammung und besuchte das Valeria-Koch-Gymnasium. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter in einem kleinen Andenkenladen in der Flaniermeile Király utca hilft, arbeitet sie für eine Headhunting-Firma in Bukarest. Fast jedes Wochenende fliegt Nora Aczel aus Rumänien nach Budapest und reist von dort im Zug heimwärts. In Kürze will sie aber nach Südungarn zurückkehren – gemeinsam mit ihrem griechischen Verlobten. “Das Leben muß ja weitergehen”, sagt die sympathische junge Frau in gutem Deutsch, freut sich auf ihre bevorstehende Hochzeit und hofft, das Jahr 2010, in dem Fünfkirchen neben Essen und Istanbul “Europäische Kulturhauptstadt” ist, möge endlich einen spürbaren Aufschwung zur Folge haben.
Martin Schmidt
2010-02-13