Am Széchenyi tér sind kaleidoskopisch fast alle wichtigen architektonischen Spuren dieser Stadt versammelt: die auf den Ruinen einer christlichen Kirche erbaute Moschee des Paschas Gasi Khasim als größtes erhaltenes Zeugnis der Türkenherrschaft in Ungarn, eine zu österreichisch-ungarischen Zeiten im 18. Jahrhundert errichtete “Säule der Dreifaltigkeit” sowie die Häuser wohlhabender donauschwäbischer und jüdischer Bürger der späten k.u.k-Ära. Dazu ein üppiger Jugendstilbrunnen mit der für die örtliche Zsolnay-Keramikmanufaktur charakteristischen Eosin-Glasur und das 1907 vollendete neobarocke Rathaus, das an der Einmündung des Boulevards Király utca symbolträchtig von einer McDonald‘s-Filiale flankiert wird.
Nur die archäologischen Relikte der einstigen römischen Provinzhauptstadt Sopianae fehlen hier. Sie sind am Rande des Dommuseums in Form einer frühchristlichen Grabkirche aus der Mitte des 5. Jahrhunderts sichtbar gemacht. Die durch eine großflächige Verglasung veranschaulichten spätantiken Spuren der rund 2000jährigen Stadtgeschichte brachten Fünfkirchen (Pécs) im Millenniumsjahr die Erhebung zum UNESCO-Weltkulturerbe. Im Oktober 2005 folgte die nationale Kür zur “Europäischen Kulturhauptstadt 2010”. Unter dem Motto “Stadt ohne Grenzen” hatte man sich gegen elf Mitbewerber durchgesetzt. Ernsthafte Rivalen wie Miscolcz oder Debreczin (Debrecen) wurden ebenso ausgestochen wie das Megazentrum Budapest.
Werbung mit Telekom, aber ohne deutsche Sprache: Tafel am Informationszentrum zum Kulturhauptstadtjahr 2010 in Fünfkirchen/Pécs
Nicht nur am Domplatz und am Széchenyi tér wird dem Besucher schnell klar, daß das südungarische Fünfkirchen als Stadt kulturgeschichtlicher Synthesen dem Titel “Europäische Kulturhauptstadt 2010” Ehre machen könnte. Denn nicht nur zu römischer Zeit, sondern auch im Mittelalter war das zum Königreich Ungarn gehörende “Quinque Ecclesiae” (fünf Kirchen) ein bedeutendes Kultur- und Handelszentrum mit Bischofssitz, zahlreichen Ordensniederlassungen und der 1367 gegründeten ersten Universität des Landes. 2009 blickt man auf den tausendsten Jahrestag der Gründung der Diözese Fünfkirchen durch König Stephan I., “den Heiligen”, zurück, und nicht von ungefähr verfügt Fünfkirchen über die längste mittelalterliche Stadtmauer Ungarns.
Dieses reiche kulturhistorische Erbe beflügelte die Mitglieder einer Bürgerinitiative, die im Einvernehmen mit einem Großteil der Stadtbevölkerung die Bewerbung zum Erfolg machte. Doch die Euphorie des Jahres 2005 ist längst verflogen. Im Sommer 2009 beherrschen in der zwischen Donau und Drau gelegenen 160 000-Einwohner-Stadt Enttäuschung, wirtschaftlich-politischer Pessimismus und gegenseitige Schuldzuweisungen das Bild. Die Kluft zwischen den hochfliegenden Plänen, allen voran fünf großen Repräsentationsbauten, und den sichtbaren Fortschritten bzw. realistischen Umsetzungsmöglichkeiten für das kommende Jahr ist gewaltig. Die Projekte einer Konzert- und Konferenzhalle, einer Ausstellungshalle, eines umfangreichen Kulturviertels auf dem Zsolnay-Manufakturgelände und eines regionalen Bibliotheks- und Wissenschaftszentrum sind – zumindest mittelfristig gesehen – Makulatur. Nur ein riesiges Parkhaus vor der Synagoge nimmt bereits Gestalt an, ebenso die “Revitalisierung” von 40 großen und 32 kleinen öffentlichen Plätzen. Laut Csaba Ruzsa, dem Direktor des Vereins “Pécs 2010”, werden diese Restaurierungsarbeiten “irgendwann im Januar” abgeschlossen sein.
Wer hinter die Kulissen geblickt hat und die vollmundigen Ausführungen in der Hochglanzbroschüre “Pécs 2010” des Ungarischen Tourismusamtes liest, kann sich nur wundern. Da ist von der Entstehung des größten, für tausend Personen ausgelegten Konzerthauses Ungarns die Rede und vom Ausbau der Szolnay-Fabrik zur flächenmäßig umfassendsten Baudenkmal-Rekonstruktion Ostmitteleuropas. Auf 20 000 qm sollen Ausstellungsräume zur Geschichte der Keramikmanufaktur, Konzert- und Theaterhallen, ein Jugendzentrum, Kinder- und Familienbereiche, Cafés und ein Art-Nouveau-Restaurant entstehen.
Häufige Wechsel der Entscheidungsträger durch Neuwahlen und Todesfälle erschwerten die Planung ebenso wie anhaltende Probleme beim Ausbau der Infrastruktur. Die von der Zentralregierung zu verantwortende, für die Anreise nennenswerter Touristengruppen unverzichtbare Fertigstellung der Autobahnverbindung zwischen Fünfkirchen und Budapest wird frühestens im März 2010 beendet sein, der ähnlich wichtige Ausbau des hoch defizitären Flughafens Pécs-Pogany liegt auf Eis. Mehrere Investoren in Hotelbauten sind wegen der Finanzkrise abgesprungen, so daß angesichts der völlig unzureichenden Zahl von rund 5000 Betten auf die üppigere Tourismusstruktur des 30 Kilometer entfernten Heilbades Harkány zurückgegriffen werden muß. Doch auch damit beziffert sich das Angebot an Hotelbetten im gesamten Komitat Branau (ungar. Baranya) auf bescheidene 13 000. Angesichts der zu erwartenden über eine Million Besucher ist weiterer Ärger vorprogrammiert.
Diese Liste an “Pleiten, Pécs und Pannen” wie es ein deutscher Journalist nannte, ließe sich fortsetzen. In diesem Frühjahr reagierten dann endlich die Planungsbüros und beschlossen, sich für die gar nicht oder nur unzureichend umsetzbaren Repräsentationsbauten nach Alternativen umzusehen, etwa in Gestalt des Domes samt Bischofsplatz, der imposanten Synagoge, der Universitätsaula und der zu modernisierenden Säle des Komitatsmuseums. Ansonsten hoffe man für die ausstehenden Bauarbeiten auf einen “milden Winter”, so der Vizepräsident der Komitatsversammlung, Zoltán Horváth, tröstet sich mit den Planungsfehlern von Kulturhauptstadt-Vorgängern wie dem britischen Liverpool oder setzt auf aberwitzig anmutende Notlösungen wie die Einbeziehung des etwa 80 Kilometer entfernten kroatischen Flughafens Esseg (Osijek) zur Bewältigung der Anreiseproblematik ins verkehrstechnisch ungünstig gelegene Fünfkirchen.
Darüber hinaus bleibt die Chance, durch markante Ausstellungen etwa über die zumeist jüdischen Künstler der “Gruppe Acht”, den in Fünfkirchen geborenen weltbekannten “Pionier der optischen Kunst” Victor Vasarely (1908-97) oder eine regionalbezogene Bauhaus-Präsentation den Ruf als “Stadt der modernen Künste” zu bestätigen. In Fünfkirchen genossen Künstler selbst in den sechziger und siebziger Jahren größere Freiheiten als irgendwo sonst im kommunistischen Ungarn. Vor allem rückt jetzt die lange vernachlässigte Palette der rund 130 verschiedenen Programme ins Blickfeld. Diese reicht von den in der madjarischen Mehrheitsgesellschaft heftig diskutierten Nationalitäten-Kulturprogrammen aus den Reihen der neun örtlichen anerkannten Minderheiten (Donauschwaben, Kroaten, Zigeuner, Serben u. a.), über Konzerte des weltberühmten städtischen Orchesters, Lesungen, Aktionen von Schülergruppen bis zur Öffnung sehenswerter Privatgärten. Eine in Istanbul – der neben Essen dritten Europäischen Kulturhauptstadt 2010 – zusammengestellte Ausstellung zur “Islamischen Kultur” soll nächstes Jahr auch in den anderen beiden Kulturhauptstädten zu sehen sein.
Verschiedenste kulturgeschichtliche Einflüsse prägen nicht nur am Széchenyi tér das Stadtbild
Über die Teilnahme ausländischer Künstler mit Weltgeltung wird ebenfalls gemunkelt, jedoch ist hier ebenfalls vieles unklar. Die Finanzierung der ansonsten wesentlich auf Breitenaktivitäten beruhenden Programmatik krankt daran, daß diese seit 2006 unter der Oberaufsicht einer Budapester Firma ablaufen muß. So werden erhebliche Energien darauf verwendet, die Vorhaben dieser zu hundert Prozent dem zentralstaatlichen Unterrichtsministerium gehörenden Firma mit dem Fünfkirchener Kulturrat abzustimmen, zumal auch die gesamte Öffentlichkeitsarbeit und Werbung der Budapester Oberhoheit unterliegt. In Fünfkirchen selbst gibt es ein eigenes Büro der hauptstädtischen Firma, in dem sich rund 50 Mitarbeiter nicht zuletzt selbst verwalten. Eine Aufstellung der Programme wurde erstmals im Juli veröffentlicht, allerdings – auch das ist typisch – ausschließlich in ungarischer Sprache. Zu allem Überfluß hängt die Wirtschaftskrise, die die Republik Ungarn an den Rand der Staatspleite brachte, wie ein Damoklesschwert über allen Finanzkalkulationen. Letztlich könnte es Fünfkirchen ähnlich ergehen wie der aktuellen Kulturhauptstadt Wilna (Vilnius), der die litauische Regierung Anfang des Jahres unter Hinweis auf die Krise kurzfristig 40 Prozent der angekündigten Staatsmittel entzog.
Doch was sind die Gründe dafür, daß Anspruch und Wirklichkeit derart auseinanderklaffen? – Zoltán Schmidt aus dem in Fünfkirchen ansässigen Regionalbüro der ungarndeutschen Selbstverwaltung des Komitats Branau bringt es auf den Punkt: “Der traditionelle ungarische Zentralismus und die allgegenwärtige Korruption ließen aus dem schönen Traum einen Alptraum werden.” Aussagen von Christian Gracza, örtlicher Kulturmanager der Robert-Bosch-Stiftung, und Zoltán Horváth bestätigen diese Einschätzung. Júlia Fabényi, die Direktorin der immerhin 21 Museen des Komitats Branau, bringt ihre Empörung ungeschminkt zum Ausdruck: “Budapest hat überall die Finger drin. (…) Alle unsere Ideen wurden weggewischt. Das ist postkommunistisches Gebaren.”
Der von vornherein niedrig veranschlagte Kulturhauptstadtetat in Höhe von acht Millionen Euro aus Mitteln der Zentralregierung (40 Prozent), der Stadt (33 Prozent), der Europäischen Union und der Nationalen Kulturstiftung sowie privaten Spenden ist teils ergebnislos versickert. Genauer gesagt: Viele Gelder sind in die Taschen korrupter Politiker und Unternehmer geflossen. Darüber hinaus waren die Vorlaufzeiten der überdimensionierten Bauprojekte zu kurz, und der wiederholte personelle Wechsel speziell im Bürgermeisteramt ließ keine kontinuierliche Arbeit zu, so daß viele fähige Aktivisten der Anfangszeit mittlerweile aufgegeben haben.
Wenn der agile Dreißiger Tamás Szalay dennoch davon spricht, die Ziele nicht nur für 2010, sondern für die nächsten zwei, drei oder gar vier Jahrzehnte setzen zu wollen, so ist das weniger als Weitsicht, denn als Ausdruck akuter Erklärungsnöte zu verstehen. Ähnliches gilt für seinen Kommentar, die vielen Planungsfehler und Skandale seien Teil eines “nützlichen Prozesses” zur Entwicklung bislang fehlender Formen des öffentlichen Engagements und Dialogs.
Zweifellos hat es nicht nur in puncto demokratischer Teilhabe nach 1989 Fortschritte gegeben. Doch was die wirtschaftliche Lage angeht, ist in Fünfkirchen auch jede Menge Ernüchterung zu spüren. Denn in der Zeit des “Gulaschkommunismus” hatte die Stadt eine relative Blüte erlebt. Massive Industrieansiedlungen verdoppelten die Einwohnerzahl, die vor dem Zweiten Weltkrieg noch bei 80 000 gelegen hatte, allerdings um den Preis einer durch den Zuzug vom Lande gewollten zunehmenden “Proletarisierung”. So wurden die 1853 gegründeten, international bedeutenden Szolnay-Kunstkeramikwerke, nach 1945 von einem Tag auf den anderen von der traditionsreichen “bourgeoisen Fabrikation” hochwertiger Manufakturwaren auf die Bedürfnisse einer “sozialistischen Produktion zugunsten der werktätigen Massen” umgestellt. Das war in menschlicher Hinsicht niederträchtig, wenn man bedenkt, welch außerordentliche soziale und kulturelle Verdienste sich die Familie Szolnay um Fünfkirchen erworben hatte. Und es bewirkte nachhaltige Qualitätsverluste und Imageschäden, die noch immer nicht ganz überwunden sind, auch wenn wieder kleinere Stückzahlen mit hohem künstlerischen Anspruch und stattlichen Preisen unter anderem in die Scheichtümer am Persischen Golf ausgeführt werden bzw. man auf einen kürzlich unterzeichneten Zuliefervertrag mit Ikea verweisen kann. Das heute in städtischem Besitz befindliche denkmalgeschützte Fabrikgelände mutet in weiten Teilen wie ein heruntergekommenes Industriedenkmal an, aus dessen sozialistischer Tristesse sich lediglich die instandgesetzten Wohn- und Repräsentationsgebäude von Firmengründer Vilmos Szolnay wohltuend hervorheben.
Vor der stattlichen Synagoge entsteht ein riesiges Parkhaus
Andere Wirtschaftszweige wie der Kohlebergbau erwiesen sich nach der Wende als nicht mehr konkurrenzfähig, so daß Fünfkirchen und die ganze Region Branau im innerungarischen Vergleich zunehmend an Bedeutung verloren. Heute gilt das Komitat Branau als strukturschwach. Drei der neun Kleinregionen des Komitats gehören zu den ärmsten Ungarns; die Stadt und ihr unmittelbares Umfeld liegen im nationalen Durchschnitt, wenngleich die offizielle Arbeitslosenquote von acht bis zehn Prozent in Wirklichkeit erheblich höher ist. Der Abstand zur Hauptstadt Budapest und anderen ökonomischen Zentren wie Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) oder Debreczin (Debrecen) wächst zusehends. Facharbeiter werden vor Ort kaum noch ausgebildet, insbesondere viele jüngere und gebildete Leute zieht es aus Mangel an angemessenen Arbeitsmöglichkeiten weg, nicht selten ins Ausland.
Wäre da nicht die Universität, die mit ihren 35 000 Studenten und rund 6000 Angestellten nicht nur die älteste, sondern auch die größte des Landes ist, würde die stetige Überalterung der Stadt noch augenscheinlicher. Doch die vielen Studenten sorgen für jugendliches Flair und erweiterte Horizonte. Die medizinische Fakultät verfügt seit einigen Jahren sogar über einen deutschsprachigen Zweig, der bereits 400 Studenten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angelockt hat, deren Semestergebühren der öffentlichen Hand zugute kommen.
Doch auch die studentische Generation Fünfkirchens ist von tiefem Mißtrauen in die Zukunftsfähigkeit der lokalen wie der nationalen Politiker geprägt. “Es gibt keinen Politiker, dem man wirklich trauen kann”, klagt Nora Aczel. Die 25jährige ist donauschwäbischer Abstammung und besuchte das ungarndeutsche Valeria-Koch-Gymnasium in Fünfkirchen. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter in einem kleinen Andenkenladen in der Flaniermeile Király utca hilft, arbeitet sie für eine Headhunting-Firma in Bukarest. Fast jedes Wochenende fliegt Nora Aczel aus Rumänien nach Budapest und reist von dort im Zug heimwärts. In Kürze will sie ganz nach Südungarn zurückkehren – gemeinsam mit ihrem griechischen Verlobten. “Das Leben muß ja weitergehen”, sagt die sympathische junge Frau in gutem Deutsch, freut sich auf ihre bevorstehende Hochzeit und hofft, das Kulturhauptstadtjahr möge doch noch einen spürbaren Aufschwung zur Folge haben.
Das sehenswerte Stadtbild Fünfkirchens, seine anmutige mitteleuropäisch-mediterrane Atmosphäre und die landschaftlichen Reize der umliegenden Mittelgebirgslandschaft der “Schwäbischen Türkei” berechtigen trotz aller Planungsfehler auch zu optimistischen Blicken in die Zukunft. Für das Jahr 2010 werden die Stadtoberen gezwungen sein, dem Beispiel finanziell ähnlich klammer Kulturhauptstädte Europas nachzueifern, um – wie im rumänischen Hermannstadt (Sibiu) 2007 geschehen – den stolzen Titel auch ohne Großprojekte in einen werbeträchtigen Erfolg umzumünzen. Vor allem gilt es nun, die vielleicht einzige allgemeine Tugend der kommunistischen Ära wiederzuentdecken: die Kunst der Improvisation.
Die wohl bezauberndste Blüte für Einfallsreichtum und Spontaneität gerade in tristen Zeiten ist die mitten in der geschichtsträchtigen Altstadt zu findende “Schlösserwand”, die aus Hunderten angeketteter Vorhängeschlösser aller Größenordnungen besteht und in Europa nicht ihresgleichen hat. Schon seit Mitte der achtziger Jahre erinnern die mit den Namen verliebter Paare beschrifteten Schlösser, deren Schlüssel demonstrativ weggeworfen werden, an zahllose romantische Treueschwüre. Und manch ein Passant mag sich fragen, wie oft wohl diese trutzigen Symbole dem realen Leben standhielten.
Martin Schmidt
2009-12-15