Vitale Brückenbauer

Die rumäniendeutsche Kultur lebt weiter

Das ost- und auslandsdeutsche Kulturerbe wirkt schöpferisch fort, in der Heimat der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler sowie der wenigen Verbliebenen ebenso wie in bundesdeutschen Landen. Wohl bei keiner anderen Minderheit ist diese Tatsache so offensichtlich wie bei den Rumäniendeutschen - also Donauschwaben und Siebenbürger Sachsen - mit ihren sehr unterschiedlichen Siedlungsgruppen. Der Literaturnobelpreis der 1953 in Nitzkydorf im Banat geborenen Herta Müller ist da nur ein Beispiel unter vielen.

Im Vergleich zu den Anfang des 20. Jahrhunderts ungefähr 900 000 Deutschen in Rumänien leben heute zwar nur noch magere 60 000 vor Ort, aber ihr kulturpolitisches Gewicht ist erstaunlich. Das höhere deutsche Schulwesen im Banat und vor allem in Siebenbürgen überlebte nicht nur die kommunistische Diktatur Ceausescus, sondern auch den Massenexodus der Jahre 1990/91. Über 90 Prozent rumänischstämmige Schüler - zumeist solche aus den gehobenen Schichten - wachsen heute an den Lyzeen in Temeschwar, Hermannstadt oder Kronstadt mit der deutschen Unterrichtssprache und den kulturellen Überlieferungen der einheimischen Deutschen auf und machen sie partiell zu ihren eigenen. In der Region Sathmar an der ungarischen Grenze gibt es noch mehrere Tausend einst weitgehend madjarisierter Donauschwaben aller Altersstufen, die nicht ausgesiedelt sind und heute in Teilen wieder zu ihren deutschen Wurzeln zurückfinden. Zwischen Rhein und Oder wirken Rumäniendeutsche nicht selten als Brückenbauer in die alte Heimat und zu Rumänien und dessen Kultur allgemein.

Doch nicht nur der rumänisch-deutsche Kulturaustausch ist von großer Vitalität, auch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem EU-Neuling Rumänien und der Bundesrepublik Deutschland haben sich auch dank der ausgesiedelten, der heimatverbliebenen und der wachsenden Zahl zurückkehrender Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen gut entwickelt. Hermannstadt (rumän.: Sibiu) mauserte sich zum begehrten Standort von Großkonzernen wie Siemens oder Thyssen-Krupp sowie mittlerweile über hundert mittleren und kleinen Unternehmen. Der Tourismus in der Europäischen Kulturhauptstadt 2007 ist nicht zuletzt dank der zahlreichen Besucher aus Deutschland - neben Aussiedlerfamilien auch immer mehr Binnendeutsche - auf Touren gekommen. Einem Anfang Oktober 2009 veröffentlichten Zwischenbericht einer Erhebung der “European Association for Leisure Time and Tourism Studies” (ATLAS) zufolge belegt Hermannstadt in diesem Jahr den fünften Platz unter allen als hochrangig eingestuften Kulturzielen auf dem Kontinent. Im Jahre 2006 war die Stadt am Zibin überhaupt erst in die exklusive ATLAS-Liste aufgenommen worden, belegte damals jedoch nur den vorletzten Platz.

Politisch wird Siebenbürgen nicht unwesentlich von den Vertretern des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) geprägt, dem zuletzt bei den Kommunalwahlen am 1. Juni 2008 aufsehenerregende Erfolge gelangen. In Hermannstadt selbst wurde Klaus Johannis trotz eines minimalen Bevölkerungsanteils der deutschen Minderheit in der 170 000-Einwohner-Stadt mit 83 Prozent für eine dritte Amtszeit bestätigt; im Kreis Hermannstadt amtiert mit Martin Bortesch erstmals ein Deutscher als Präfekt. Insgesamt gibt es in Rumänien seither elf direkt gewählte deutsche Bürgermeister und über 40 Deutsche, die auf der Liste des Forums in Kommunalparlamente einzogen. In keiner anderen Region der Erde existiert eine ethnische Minderheitenpartei, die von der Mehrheitsbevölkerung an den Wahlurnen derart großes politisches Vertrauen zugebilligt bekommt.

Für den binnendeutschen Raum hat dies nicht nur ökonomische Vorteile. Als der hessische Europaminister Volker Hoff dem EU-Sprachenkommissar Leonard Orban im April 2008 eine Erklärung über die Benachteiligung der deutschen Sprache durch die Staatenunion auf administrativer Ebene vorlegte, befanden sich unter den Unterzeichnern neben vielen deutschen und österreichischen Bundesländern, der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol und der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien auch die rumänischen Kreise Hermannstadt (Sibiu) und Temesch (Timis).

Die heute zwischen Rhein und Oder wohnenden Rumäniendeutschen sind, zumindest materiell gesehen, problemlos integriert. Ihre landsmannschaftlichen Verbände sind in der Regel aktiver als die von Überalterung gezeichneten Vertriebenenvereinigungen aus dem historischen Ostdeutschland. Daß nun dank der hohen Auszeichnung für Herta Müller auch die eigenständige rumäniendeutsche Literaturszene erheblich aufgewertet wird, ist ein Riesenerfolg, dessen Folgen noch gar nicht absehbar sind. Im “Schlepptau” Herta Müllers dürften Autoren der in den späten achtziger Jahren ausgesiedelten “Aktionsgruppe Banat” wie Richard Wagner oder der 2007 verstorbene Oskar Pastior ebenso mehr Beachtung in der breiten Öffentlichkeit erfahren wie andere bedeutende rumäniendeutsche Schriftsteller, so die Siebenbürger Hans Bergel oder der heimatverbliebene Eginald Schlattner. Die Dimension der Werke Müllers und anderer ist international, wie die Zeitung Romania Libera am 9. Oktober hervorhob. Dargestellt wird eine “Tragödie, die die persönliche Erfahrung übersteigt”. Diese “läßt sie [Herta Müller] zur Sprecherin einer größeren Botschaft werden, eines kollektiven Schicksals, eines Archetyps des Leidens. (…) Es gibt hier eine symbolische Relevanz nicht nur für die Banater Schwaben, nicht nur für die deutschen Kulturen an der Donau und in den Karpaten, sondern auch für jene, die vom kommunistischen System mit Füßen getreten wurden. Wir als Rumänen haben Jahrzehnte verloren, während wir teils verzweifelt auf ein anderes Leben hofften und durchhielten (…). Herta Müller hat sich den Orten und Leuten, von denen sie stammt, nicht verweigert. (…) Ihre verschiedenen öffentlichen Äußerungen (…) sind der Beweis, daß das Land, aus dem sie stammt, sie immer noch schmerzt und daß die Wunde nie heilen wird.”

Vielleicht wird der Blick sogar auf die junge, ethnisch überwiegend rumänische “Stafettengeneration” (benannt nach einem Literaturkreis am Temeschwarer Lenaugymnasium) gelenkt werden, die die rumäniendeutschen Literaturtraditionen in der alten Heimat auf ganz neue Art und Weise fortsetzt. Daß der aus Rosenau bei Kronstadt stammende Hans Bergel am 15. September 2009 in der rumänischen Botschaft in Berlin mit dem Kultur-Verdienst-Orden im Offiziersgrad ausgezeichnet wurde, wirft jedenfalls ein bezeichnendes Licht auf die Wertschätzung, die man all diesen Vorboten des interkulturellen Dialogs rumänischerseits schon jetzt zuteil werden läßt.

Mit den Autoren und ihren Biographien finden auch die auslandsdeutschen Erfahrungswelten, speziell die leidvoll-bewegte Geschichte des 20. Jahrhunderts Eingang in das hiesige Literaturschaffen und ansatzweise ins Bewußtsein der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Herta Müllers jüngster Roman “Atemschaukel” über die Erlebnisse eines aus Siebenbürgen stammenden Ich-Erzählers in einem sowjetischen Arbeitslager (auch die Mutter der Schriftstellerin war zur Zwangsarbeit nach Rußland deportiert worden) zeugt von dieser Horizonterweiterung ebenso wie Hans Bergels Roman “Die Wiederkehr der Wölfe” (2006). Sie steht unter einem Leitgedanken José Ortega y Gassets, den Bergel seinem großen Werk voranstellt: “Wer etwas erklären will, muß eine Geschichte erzählen.”

Martin Schmidt

2009-10-29