Werschetz im Oktober 2011: Mit dem Kreuz durch die Dreilaufergasse

Vorbemerkung:
Nachfolgender Bericht entstammt der Feder von Jürgen Schneider, dessen Mutter Maria, geb. Braun (Jahrgang 1937), aus Kudritz (Banat) stammt. Deren Mutter wiederum wurde dort von den Russen erhängt. Ohne ihre Mutter war Maria mit ihrer Schwester Emma (Jahrgang 1931) zuerst im Lager Kudritz, dann in Molidorf und schließlich in Schendjuri (Sankt Georgen - heute Zitiste) interniert, ehe sie mit einer Gruppe Erwachsener im Februar 1948 nachts zu Fuß durch den Schnee bis ins Luftlinie 18 km entfernte Rumänien fliehen konnte. “Mir war es immer schon ein Herzensanliegen gewesen, sowohl das Heimatdorf Kudritz als auch die benachbarte Stadt Werschetz und die Stationen des Leidens meiner Mutter und meiner Großmutter einmal mit eigenen Augen anzuschauen, die Wege mit eigenen Füßen zu gehen”, erklärt Jürgen Schneider. Nach Kontaktaufnahme mit Stefan Bastius aus Tegernheim, einem 85-jährigen Kudritzer und ehemaligen Schüler des Werschetzer Gymnasiums, ergab sich dann im September 2011 die Gelegenheit. Die nun folgenden Auszüge aus den Schilderungen von Jürgen Schneider beziehen sich sowohl auf diese erste Reise als auch auf den wenig später erfolgten Besuch im Oktober 2011.

“Mein erster Besuch auf dem Kudritzer Friedhof machte mich sehr traurig. Der Friedhof war zwar gemäht und die über Jahrzehnte gewachsenen Bäume und das Unterholz waren kürzlich entfernt worden, aber die meisten Grabsteine auf der noch weitgehend deutsch belegten linken Seite des Friedhofs lagen am Boden - kreuz und quer - und es war offensichtlich, dass hier schon vor langer Zeit Friedhofsschänder am Werk gewesen waren, waren die Grabsteine doch oft in ihrer gesamten Dicke in den Boden eingesunken. Mein Entschluss stand gleich fest: Ich werde diesen Ort nicht so verlassen, wie ich ihn vorgefunden habe. Dieser Friedhof soll wieder wie ein Friedhof aussehen und nicht mehr wie ein Trümmerfeld.

Werschetz
Jürgen Schneider (48 Jahre) in der Werschetzer Dreilaufergasse mit dem Holzkreuz

Tage zuvor hatte ich beim ersten Besuch des Orts in meinem Leben überhaupt nur einige Straßen erkundet und dabei Hubert Nenadic kennen gelernt. Seine Mutter war eine geborene Jäger und Hubert sprach noch sehr gut Deutsch. Nach meinem traurigen Besuch auf dem Friedhof suchte ich Hubert auf, der eigentlich in Ljubljana lebt, aber wegen der Beerdigung seiner Schwiegermutter zufällig bei seinem Schwager zu Besuch war - schräg gegenüber des ehemaligen Hauses meines Großvaters. Ich fragte Hubert, ob es im Ort Arbeitslose gäbe und ob darunter Männer seien, welche bereit wären, hart zu arbeiten, denn ich wolle beginnen, den Friedhof zu renovieren. Hubert entgegnete, dass seitens der Kirche eventuell etwas Derartiges geplant sei, aber sicher sein könne man da mit dem Beginn auch nicht. Kurz, ich beauftragte Hubert mit der Organisation der Männer und legte als Arbeitsbeginn den nächsten Tag morgens um 10 Uhr fest.

Werschetz
Stefan Bastius (85 Jahre), ehemaliger Schüler des Werschetzer Gymnasiums, im Gespräch mit Bewohnern der Dreilaufergasse

Am nächsten Tag ging ich von meiner Werschetzer Unterkunft zur Bushaltestelle, kaufte noch Spaten, Hacke, Kelle, Handschuhe und Handbesen und fuhr nach Kudritz. Mit dem Werkzeug durchs Dorf marschierend erregte ich sogleich Aufsehen - die Menschen wollten wissen, was dieser Fremde mit dem Werkzeug in ihrem Dorf vorhat. Auf dem Friedhof warteten bereits 4 Männer. Die folgenden drei Tage verbrachte ich mit meiner hervorragenden Mannschaft auf dem Friedhof, wo wir äußerst hart, aber mit guter Laune arbeiteten. Wir gruben die umgestürzten und eingesunkenen Grabsteine aus, unterlegten wo nötig die Sockel, suchten in der Erde nach den originalen Fundamenten und stellten die Sockel wieder genau an ihre ursprüngliche Plätze und lehnten die Grabsteine schräg davor.

Alles wurde abgewaschen und gesäubert, jeder Grabstein fotografisch mit seinem Text dokumentiert sowie mit Blickrichtung auf die Kapelle abgelichtet, so dass später die zu Besuch kommenden Familienangehörigen nicht lange ihre Grabsteine suchen müssen.

Werschetz
Das Kreuz in der Dreilaufergasse

Meine von Russen in Kudritz erhängte Großmutter Maria Braun (geb. Weser) hätte am 14. Oktober 2011 ihren 100. Geburtstag gefeiert. Ein unbändiger Wunsch kam in mir auf, an diesem Tag an ihrem Grab zu stehen, als erster seit ca. 60 Jahren, denn ich hatte aufgrund der Arbeiten auf dem Friedhof das Grab meiner Urgroßeltern gefunden. Zurückgekehrt buchte ich gemeinsam mit Stefan Bastius, welcher mich gerne begleiten wollte, einen Flug vom 13. bis 24. Oktober 2011. In Werschetz angekommen, widmete ich mich tags darauf der anhand eines Fotos von 1951 und aufgrund der beim vorigen Arbeitseinsatz auf dem Kudritzer Friedhof entdeckten Grab meiner Urgroßeltern nun wiederentdeckten Grabstelle meiner Großmutter, welche genau an diesem Tage ihren 100. Geburtstag hatte.

Mit meiner Mannschaft wurden die Gräber von Gras und Unkraut freigehackt, Blumenzwiebeln gesät, und eigentlich sollten Kinder meine 400 mitgebrachten Kerzen auf dem Friedhof entzünden. Aber es war zu windig, so dass die Kinder - allesamt zum Dank mit Schokolade ausgestattet - unverrichteter Dinge ihren Heimweg antreten mussten. So ging ich mit meinem besten Arbeiter, welcher zufällig auch Kirchendiener ist, in die Kirche, um für meine Großmutter die Kirchenglocken zu läuten. Nach 20 Minuten und etlichen entgegengenommenen Telefonanrufen hörten wir dann auf - für meine Großmutter hatten zum ersten Mal die Kirchenglocken geläutet. Abends fuhr ich dann nochmals mit meinem kroatischstämmigen Gastgeber zum Friedhof, wo ich bei weit besseren Verhältnissen 70 bis 80 Kerzen entzünden und verteilen konnte. Dann wollte er nicht mehr und alleine auf dem Friedhof lassen wollte er mich auch nicht. So musste ich meine geplante Aktion, am 100. Geburtstag meiner Großmutter den Friedhof komplett zu beleuchten, auf halbem Wege abbrechen.

Werschetz
Schinderwiese - das Kreuz kommt an

Am Morgen des 20. Oktober - zwischenzeitlich hatte ich zwei weitere Tage mit meiner Mannschaft auf dem Kudritzer Friehof Grabsteine ausgegraben, gesäubert und aufgestellt - fuhr ich mitsamt dem großen Holzkreuz und verschiedenem Werkzeug mit dem Schulbus nach Werschetz. Ich lief zu Fuß zu Stefans Wohnung - beide zusammen gingen wir dann zur St. Gerhard-Kirche in Werschetz. Ich trug das große Kreuz und alles Werkzeug, Stefan die Gedenktafeln. Wir riefen den Kantor Janos Lovas an, er möge kommen. Ich hatte mit ihm vereinbart, er solle für meine Großmutter spielen und singen. Das tat er als erstes. Das Holzkreuz hatte ich mit auf die Orgelempore genommen. Stefan setzte sich mit der Tafel für die Donauschwaben dazu und sprach einige Worte im Gedenken an die Geschehnisse in der Dreilaufergasse und zum Schicksal dar Donauschwaben. Herr Lovas spielte auf der Orgel und sang dazu Trauerlieder. Im Kirchenraum besprengte ich das Kreuz mit Weihwasser und los ging es in Richtung Dreilaufergasse.

Ich bestand darauf, das Kreuz die gesamte Dreilaufergasse hindurch samt Werkzeug auf dem Rücken zu tragen - und zwar mitten auf der Fahrbahn - weil auch die Opfer damals den Gehweg nicht benutzen durften. Zu ihrem Gedenken sollte das Kreuz vor seiner endgültigen Aufstellung durch die Dreilaufergasse getragen worden sein. Die Dreilaufergasse ist sehr lang und Stefan schaffte es nicht weit über die Hausnummer 200 hinaus, von wo wir dann zur Hausnummer 1 zurück liefen. Stefan sprach jeden, dem wir begegneten auf die Geschehnisse in der Dreilaufergasse an. Insgesamt gut drei Stunden waren wir so in der Dreilaufergasse unterwegs, machten Rast, bekamen sogar Erfrischungsgetränke angeboten, stellten das Kreuz provisorisch in einem Sandhaufen an der Straße auf. Ich entzündete 2 Kerzen. Es waren sehr gute Gespräche, welche wir da hatten, teils auf Serbisch, teils auch auf Englisch. Viele Bewohner der Straße wussten nichts von den Geschehnissen in der Dreilaufergasse bzw. von der Schinderwiese. Jahrzehntelang war hier ja verschweigen oberste Pflicht gewesen, woher sollten die Jungen dann etwas wissen?

Werschetz
Stefan Bastius und Jürgen Schneider - das Holzkreuz samt Gedenktafel auf der Schinderwiese ist errichtet Fotos (5): Jürgen Schneider

An der Kudritzer Straße endlich angelangt, ließen wir uns von einem Taxi zum Baumarkt fahren, kauften Schaufel, Eimer, Zement und Mauersand und fuhren weiter zu Schinderwiese. Dort, wo wir vier bis fünf Wochen zuvor die Blumen niedergelegt hatten, fanden wir dieselben unangetastet. Ich beschloss, genau davor das Loch für unser Kreuz zu graben. Aufgefüllter Bauschutt und eine Lage Ziegelsteine - just an dieser Stelle in der Erde vergraben - konnten mich jedoch nicht daran hindern, unser Vorhaben zu Ende zu führen. Nach zwei Stunden härtester Arbeit mit einfachen Werkzeugen war das Loch fertig, der Beton wurde gemischt. Bei Dunkelheit - es war bereits 20.30 Uhr - war unser Werk vollendet. Wir entzündeten drei Kerzen vor unserem Kreuz und machten Fotos. Am Sonntag kehrte ich zum Kudritzer Friedhof zurück und setzte am Grabe meiner ermordeten Großmutter ein eichenes Holzkreuz. Die Kerzen wurden ein weiteres Mal entzündet. Am Montag kam der Abschied. Wir flogen nach Deutschland zurück - voller Pläne. Nächstes Jahr kommen wir wieder!”

Mehr über die tragischen Ereignisse in der Werschetzer Dreilaufergasse im Oktober 1944 unter dem Menüpunkt “Archiv Neuerscheinungen”: Endlich auf Deutsch: Roman über die Verbrechen in der Dreilaufergasse

2011-11-11